Zum Buch “Geschichten aus Tono” des Steinauer Grimm-Hauses (1)
Gerade ist das Begleitbuch zur Herbstausstellung „Kizen Sasaki – der japanische Grimm“ im Steinauer Grimm-Hauses erschien. Es enthält die erste deutsche Übersetzung der frühesten Sammlung japanischer Volkserzählungen, das „Tono Monogatari“ (Geschichten aus Tono).
Diese, im Buch reich illustrierten Texte wurden in der Gegend um die Stadt Tono im Norden Japans gesammelt und 1910 veröffentlicht. Museumsleiter Burkhard Kling hat sie erstmalig vom Englischen ins Deutsche übersetzt und kommentiert. „Über 100 Bücher haben die Japaner gerade bestellt“, erzählt Kling strahlend und meint, „zur Ausstellung war die Herausgabe des Buches noch nicht gesichert. Ohne die Unterstützung des Hessischen Ministers für Wissenschaft und Kunst wäre sie gar nicht möglich gewesen.“
Zunächst ist das Buch etwas enttäuschend – zwar machen die vielen Fotos neugierig und Klaus Puths Grafiken erfreuen. Doch die 119 Geschichten, der Kern des Buches, wirken beim ersten Durchblättern recht skizzenhaft. Sie sind nicht so ausgeschmückt wie die Grimmschen Märchen sondern erscheinen wie Erzähl-Vorlagen oder Berichte über Märchen. Die kürzeste Nr. 48 geht so: „Es gibt auch viele Affen am Einsiedlerpass (Sennin-Toge). Sie machen sich einen Spaß daraus, Steine und anderes auf Menschen zu werfen.“
Doch nicht alle Geschichten sind derart lakonisch, oft wird etwas ausgiebiger erzählt, einige beginnen sogar mit „mukashi, mukashi…“ Das bedeutet „vor langer Zeit…“ und adelt sie dadurch – im japanischen Sinne – als Märchen. „Die Grimms haben ähnliche knappe Erzählvorlagen in ihrer ersten Märchenausgabe von 1812 vorgelegt“, meint Kling, „Sterntaler ist auch so kurz, erst Wilhelm Grimm hat die Berichte später weiter ausgestaltet.“
Wenn man sich jedoch mit den – nach Themen geordneten – Geschichten näher beschäftigt, sie nacheinander liest, kann man tief in die japanische Volks-Mythologie eintauchen. Manche Erzählungen kommen einem bekannt vor, weil sie thematisch an heimische Märchen erinnern – etwa die Erotik mit Tieren wie im „Froschkönig“ oder der tödliche Umgang mit Hexen oder bösen Stiefmüttern bei „Schneewittchen“. Doch oft wird von sehr fremdartigen Wesen oder spannenden exotischen Erlebnissen berichtet. Die Grafiken von Klaus Puth, der bereits Märchen der Brüder Grimm illustriert hat, verbinden diese fernen Ereignisse mit europäischen Sehgewohnheiten.
Als sich Japan Mitte des 19. Jahrhunderts gegenüber dem Westen öffnete, wurden die Arbeiten Jacob und Wilhelm Grimms übersetzt und beeinflussten die Entstehung der japanischen Völkerkunde. Einer der ersten Märchen- und Sagensammler im Geiste der Grimms war Kizen Sasaki (1886 – 1933) aus Tono, dem die Steinauer Ausstellung gewidmet ist. Sein ganzes Leben lang hat er sich für die volkstümlichen Geschichten von Geistern, Dämonen und Göttern interessiert. „Tono Monogatari“, das erste Buch über japanische Volksgeschichten, wurde allerdings von Kunio Yanagita (1875 – 1962) herausgegeben. Dieser Begründer der japanischen Ethnologie war begeistert von den Vorarbeiten Sasakis, der nach 1910 noch über 800 Märchen aus seiner Heimat zusammentrug.
„Geschichten aus Tono“ ist weder ein Märchenbuch noch eine wissenschaftliche Untersuchung, sondern changiert zwischen beidem. Unterhaltsam aber anspruchsvoll führt es in die japanische Märchen- und Sagenwelt ein, „aus der“, wie Kling sagt, „noch manche Schätze zu heben sind.“
Burkhard Kling (Herausgeber): Geschichten aus Tono, Kunio Yanagita „Tono Monogatari“, Wernersche Verlagsgesellschaft, 100 Seiten gebunden, 19,80 Euro