„Über Menschen“ Juli Zehs neuer Roman

Die alternative Werbetexterin Dora ist dem Berliner Freund ausgebüxt. „Ausbüxen. Sie mochte das Wort. Es klang nach Aus-der-Büchse-Entwischen.“ 

Nun lebt sie in ihrem großzügigen Domizil im Provinznest Bracken. Abends, nach der ungewohnt aufzehrenden Gartenarbeit, entwirft sie dort im Home Office eine Kampagne für die nachhaltig produzierten Jeans „Gutmensch“. 

Ich bin hier der Dorfnazi“, begrüßt sie an der Gartenmauer ein glatzköpfiger Nachbar, der heimlich ihr Grundstück pflegt. Später kümmert sie sich um seine verwahrloste Tochter Franzi. Beim schwulen Paar gegenüber pappt ein AfD-Aufkleber am Tor. Die Männer machen ihr klar: „In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht mehr so leicht über die Menschen erheben. Wirst dich dran gewöhnen müssen.“

Seinerzeit beschrieb Juli Zeh in ihrem erfolgreichen und verfilmten Buch „Unter Leuten“ verschiedene Personen. Im neuen Roman „Über Menschen“ schildert sie Doras Erlebnisse im Brandenburgischen einzig aus deren Perspektive: Sie lernt einige Dorfbewohner kennen, die ganz anders denken als sie, schlägt sich ohne Auto durch und streicht mit einigen Nachbarn ihr Haus. Zwischendurch erinnert sie sich an Robert und das verflossene Leben in der gemeinsamen Berliner Wohnung: „Nichts fehlte und nichts störte. Bis Greta Thunberg in ihr Leben trat.“ 

Ihr Freund wurde zum dogmatischen Klima-Inquisitor, der Doras Müll nach Pfandflaschen durchsuchte und dessen apokalyptische Szenarien ihr mächtig aufs Gemüt schlugen: „In Dora wuchs der Drang zu wiedersprechen. Was war aus der Gewissheit geworden, dass es keine absoluten Gewissheiten gibt, weshalb an allem gezweifelt, über alles gesprochen und gestritten werden muss? Dora verstand nicht, woher Robert das sichere Gefühl für die Überlegenheit seines Lebensstils nahm. Sie kam da nicht mit.“

Mit schlechtem Gewissen kaufte sie hinter seinem Rücken das renovierungsbedürftige Gutsverwalterhaus. „Dann kamen Weihnachten, Silvester und schließlich Corona, und jetzt fuhr sie wieder nach Bracken und hatte den Mietwagen mit ihrer Habe vollgepackt.“ Im Einkaufszentrum bemerkt sie: „Vom Ausnahmezustand der Großstadt ist nichts zu spüren. Eine Weile steht Dora da und schaut den Menschen beim Normal-Sein zu. Das tut gut. Die Banalität des Alltags. Sie hat nicht gewusst, wie wichtig das ist.“ 

Schließlich wird auch sie aufgrund der Corona-Krise arbeitslos. Doch nach dem Gespräch mit der nachts arbeitenden, allein erziehenden Sadie denkt sie:

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Roman zum 150. Geburtstag des Künstlers Louis Soutter

In „Schattentanz“, seinem neuen Roman, schreibt sich Lukas Hartmann einfühlsam in den exzentrischen Schweizer Maler Louis Soutter (1871 – 1942) hinein:

Er tauchte seinen Zeigefinger ins Tuschfässchen, schüttelte ihn leicht, um ihn abtropfen zu lassen, dann zog er mit ihm eine Linie übers Blatt vor sich, eine zweite, ließ eine gehende Figur entstehen; so folgten der ganze Arm mit Hand und Fingern weit besser seinen Absichten, als er es mit einem Stift oder Pinsel vermochte...“ 

An diesem Tag trat der entmündigte und meist im Heim eingeschlossene Schweizer Künstler in eine neue Schaffensperiode ein. Hartmann schreibt weiter: „Was er nun, in fiebriger Konzentration, Tag für Tag erschuf, waren Menschen, Nackte, erkennbar an ihren Silhouetten als Mann oder Frau, Menschen mit überlangen Armen und Händen, deren Finger sich spreizten, mit aufgerissenen Mündern, mit fliegenden Haaren. Tanzten sie? Verfolgten sie einander begehrend oder im Zorn?

Der Autor folgt in seinem Roman den verschlungenen Lebenswegen des Malers, dessen Schattenbilder – mit Titeln wie „Echo der Verzweiflung“ oder „Sonne der Angst“ – erst viele Jahre nach seinem Tod bekannt wurden. Zunächst erzählt Hartmann von Soutters Studium der Musik, dann der Kunst, als er schon ein leidlich erfolgreicher Violinist war. Dabei stellt der Schriftsteller Soutters Leben im Schatten der übermächtigen Mutter dar, die ihn unaufhörlich zu Erfolgen drängt. Wir begegnen der geliebten  Schwester Jeanette, nehmen schließlich an der überaus wilden aber scheiternden Liebe zur Sängerin Madge teil, mit der er in die USA ging. 

Jahre später kehrte er allein und desillusioniert nach Europa zurück. Hier brachten ihn seine Großmannssucht und hemmungslose Verschuldung aufgrund seines aufwendigen Lebensstils, in heftige Konflikte mit der Familie, die ihn schließlich entmündigen ließ. Sein sozialer Abstieg endete mit 52 Jahren im Asylheim in Ballaigues (Jura), wo er sich fast zwei Jahrzehnte lang wie besessen der Kunst widmete. Erstaunlicherweise kümmerte sich Soutters Großcousin, der erfolgreiche Architekt Le Corbusier, gelegentlich um den Maler und organsierte einige kleine Ausstellungen für ihn.

Der Baumeister sympathisierte zeitweilig mit den Faschisten, um seine moderne Architektur für den neuen Menschen realisieren zu können. Darüber entzweite er sich mit Soutter, der durch tägliche Zeitungslektüre den kommenden Krieg erahnte und in seinen Bildern düster aufscheinen ließ. „Sag doch, dass dich diese Bilder beunruhigen“, lässt Hartmann ihn zu Le Corbusier sagen.

„Schattentanz“ ist keine Biografie, sondern eine fiktive, sensible und zugleich spannende Erzählung.

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Die 71. Berlinale im Home Office (2)

Fast zwei Jahrzehnte lang hat Dieter Kosslick (72) erfolgreich die Berliner Filmfestspiele geleitet und erweitert. Jetzt zur 71. Berlinale – die wegen Corona extrem verändert und gesplittet wird – erscheinen seine Memoiren „Immer auf dem Teppich bleiben.“

Bis zu 350.000 Leute besuchten bis zum Ende seiner Ära 2019 jährlich die Festspiele. Doch der charismatische Leiter machte die Berlinale nicht nur zum größten Publikumsfestival der Welt. Sondern er verband die distanzierte europäische Filmindustrie (EFM) mit der Berlinale, holte den deutschen Film zurück, knüpfte weltweite Kooperationen und förderte die Begegnungen des cineastischen Nachwuchses mit arrivierten Filmschaffenden. Aus diesen, von ihm neu entwickelten Bereichen entstand jetzt die erste Stufe der diesjährigen Corona-Berlinale, das Industry Event. Vor allem für zehntausende von Fachbesuchern und jungen Filmschaffenden war dieser Zweig des Festivals – unbeachtet von Öffentlichkeit und Medien – bisher Mittelpunkt der Festspiele.

Der Kinoliebhaber Kosslick wollte nicht nur eine bessere Welt auf der Leinwand sehen, sondern engagierte sich – auch innerhalb der Berlinale – für Frauenrechte und weibliche Gleichstellung, gegen Rassismus, für Flüchtlinge und nachhaltige ökologische Veränderungen. Das waren keine aufgesetzten Attitüden, sondern im ersten Teil seiner Erzählungen macht er deutlich, welche Themen ihn schon früh bewegten. Etwa in den späten 1970er-Jahren schrieb er in der linken „konkret“ über das Bienensterben oder Essen und Trinken ohne Gift und chemische Zusätze. 

Von den Genossen hieß es, das sei doch allenfalls ein Nebenwiderspruch: Ein Grund für ihn, den Journalismus aufzugeben und die Hamburger Filmförderung, später dann das neue Büro der Filmschaffenden zu managen. Den gut einhundert Gründern, die seinen Lieblingsstreifen wissen wollten, nannte er „Ben Hur“: „Es wäre kontraproduktiv gewesen, einen Film aus der Reihe der Anwesenden zu nennen“, schreibt er. Dieser gigantische Hollywood-Streifen hatte ihn als Elfjährigen zum lebenslangen Kinofan erweckt. 

Kosslick lernte deutsche und europäische Filmschaffende kennen, widmete sich der Filmförderung und der Zusammenarbeit mit dem Fernsehen, was allerlei Leute überraschte. Schließlich wurde er zum Chef der nordrheinwestfälischen Filmproduktion berufen. Nach zehn Jahren in diesem Gremium machte er sich im Jahr 2001 – bestens informiert und vernetzt – auf zur Leitung der Berlinale, die er seit zwanzig Jahren regelmäßig besuchte. „Das schien kein begehrenswerter Job zu sein“, wusste er bereits, dennoch brauchte er lange um zu begreifen, dass „ehrverletzende Beleidigungen einer Handvoll Fachjournalist*innen mehr zur persönlichen Profilierung dienten und weniger die Filme betrafen.“

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Zunächst enttäuschend…

Soeben erschien „Der Solist“ von Jan Seghers, sein drei Jahre lang erwarteter Roman, der eher eine kleine Novelle geworden ist.

Auf dem Weg zum Sondereinsatz in Berlin fährt der coole Frankfurter Kommissar Neuhaus bei seiner Mutter vorbei. Die kannte er früher nur vom Telefon, weil sie jahrelang als RAF-Terroristin inhaftiert war und immer so tat, als telefoniere sie aus Afrika mit ihm. Einen Autobahnstau umfährt er durch die Wetterau und erlebt in „Onkel Toms Hütte“, dem Imbiss der dunkelhäutigen Miriam, übelsten Rassismus. Später in der Hauptstadt wird der erfolgreiche Kriminalist und interner Ermittler distanziert von der „Sondereinheit Terrorabwehr“ (SETA) empfangen, die nach dem Attentat des Terroristen Anis Amri auf einen Weihnachtsmarkt gegründet wurde.

Der eigensinnige Neuhaus kommt im Laufe der Zeit lediglich mit der deutsch-türkischen Kollegin Grabowski gut klar. Wie der Maulwurf Grabowski im gleichnamigen Kinderbuch ist sie stark kurzsichtig. Mitten in Berlin geschehen brutale Morde mit terroristischen Motiven, die Neuhaus und Grabowski aufklären sollen. Bei ihren gefährlichen Ermittlungen tun sich ständig neue, unfassbare forensische und politische Abgründe auf! Mehr wird hier von der kurzen Geschichte nicht verraten. Am Ende fährt der Kommissar nach Frankfurt zurück und hält noch einmal in der Wetterau an, doch Miriams Hütte ist abgebrannt…

Jan Seghers aktuelles Buch ist eine illusionslose Novelle aus einer düsteren Welt. Auf nur 240 Seiten geißelt er muslimischen Antisemitismus, aggressive Araber, geduldeten Rechtsradikalismus, Schwulenhass, vertuschte Polizeigewalt, kriminalistische Schlamperei und nicht zuletzt das „Kalifat des Veganismus“ der Hipster. Eigentlich will sich der „Solist“ aus allem heraushalten, er will nur seine Arbeit machen…

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Buchbesprechung

Wie aufgrund des Titels zu erwarten, beginnt Jonas Jonassons Roman zunächst in Afrika und erzählt weitschweifig die Familiengeschichte des Medizinmannes Ole Mbatian. Der litt zwar daran, dass er von seinen zwei Frauen jeweils nur vier Töchter bekam, ansonsten aber guter Dinge war: „Nichts deutete darauf hin, dass Ole Mbatian der Jüngere in nicht allzu ferner Zukunft in Stockholm, Europa und auf der ganzen Welt für einigen Wirbel sorgen würde.“ 

Knapp 8000 Kilometer nördlich fragte sich der schwedische Rassist Victor: „Was sollte man mit den ganzen Arabern? Und Iranern. Irakern. Jugoslawen?“

Aber in der populistischen Partei, die eine nationale Revolution vorbereitete, wollte er nicht ganz unten anfangen. So schleimte er sich bei einem erfolgreichen Galeristen ein, heuchelte „Begeisterung für die ganze abscheuliche moderne Kunst“ und seine kleine Tochter Jenny. Dadurch erarbeitete er sich das „Spitzen-Sprungbrett“ für gesellschaftlichen Einfluss. 

Doch kurz bevor Victor Jenny heiraten und die Kunsthandlung übernehmen wollte, bedrängte ihn eine seiner Prostituierten, die er häufig besuchte. Bereits todkrank konfrontierte sie ihn mit ihrem kleinen Kevin: „Er ist dein Sohn.“ „Sohn? Scheiße, der ist doch schwarz.“ „Wenn Du mich genau ansiehst, geht dir vielleicht auf, wie es dazu kommen konnte.“ 

Um einen Skandal zu vermeiden, erkannte er die  Vaterschaft an und verpflichtet sich, für den Jungen zu sorgen. Er vermied jeglichen Kontakt und finanzierte nur eine Wohnung und ausreichend Pizza. Bevor die Hochzeit mit Jenny anstand, wollte Victor den unerwünschten Sohn in Kenia entsorgen und ließ ihn dort nachts in der Savanne zurück.

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Geisteskranke Frauen? Über den einfühlsamen Roman „Die Tanzenden“

„Die Tanzenden“ – der Debütroman von Victoria Mas war in Frankreich ein viel gelobter Bestseller  und erschien vor einiger Zeit auch bei uns. Das Buch über „verrückte Frauen“ entführt seine Leser in die berühmte Pariser Irrenanstalt Salpêtrière im späten 19. Jahrhundert. Es lässt sie am Alltag der Eingesperrten und ihre freudige Vorbereitung für das alljährliche Karnevalsfest in der Anstalt teilnehmen.

Auf dieser karnevalistischen Lustbarkeit in der Salpêtrière drängelt und schubst sich die Pariser Hautevolee, um die „exotischen Tiere besser betrachten zu können.“ Die feinen Leute sind fasziniert von den exzentrischen weiblichen Pierrots, Musketieren und Kolumbinen, Reiterinnen und Zauberrinnen, Troubadouren und Matrosen, Bäuerinnen und Königinnen. Doch zugleich gruseln sie sich vor der Fremdartigkeit der tanzenden Wesen und lauern begierig auf das Schauspiel eines hysterischen Anfalls. 

Mit solch einer hysterischen Darbietung beginnt der Roman: der berühmte Nervenarzt Jean-Martin Charcot führt Medizinern, Schriftstellern, Journalisten und Studenten regelmäßig die junge Louise und andere Frauen vor. Unter seiner Hypnose werden ihre Anfälle künstlich erzeugt, „um deren Symptome genauer zu untersuchen.“ Doch die Besucher „haben weniger den Eindruck einer psychischen Störung beizuwohnen als einem verzweifelten erotischen Tanz. Die verrückten Frauen waren nicht mehr angsteinflößend, sie faszinierten.“ In den sogenannten Lehrveranstaltungen stahlen sie den Stars an den Boulevardtheatern die Show. Louise selbst erlebt die demütigenden Aufführungen vor gierigen Männeraugen als ihren „Moment des Ruhms und der Anerkennung“ und fühlt sich als Schauspielerin.

Seit drei Jahren lebt die Sechzehnjährige aus der Unterschicht in der Anstalt, nachdem sie gedemütigt, vergewaltigt und misshandelt wurde. Beaufsichtigt wird sie neben Hunderten anderer, angeblich geisteskranker Frauen von der strengen wissenschaftsgläubigen Oberaufseherin Geneviève. Seitdem die aus der Auvergne nach Paris kam, hütet sie ein Geheimnis, das sich im Laufe der Lektüre erschließt.

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Das Spital als Bühne – Der neue Roman von Meyerhoff

Wenn jemand ein „gutes“ Buch lesen möchte, will er wohl kaum etwas über Schlaganfälle wissen. Zwar erzeugt dieses gesundheitliche Desaster dramatische Gefühle, aber sind die Stoff genug für gute Literatur? Ja, das zeigt uns der unvergleichliche Schauspieler und Literat Joachim Meyerhoff in seinem fünften Roman.

Wie es ist, „wenn man vom Spielfeld der Junggebliebenen geschubst wird.“ Bei dem Fünfzigjährigen in Wien wird ein erschreckender Schlaganfall  „zu einem Schlagerl, das a bisserl bamstig macht“, wie seine Ärztin wienert. Der in Norddeutschland aufgewachsene Autor freut sich, dass eine Katastrophe bereits dadurch milder wird, wenn die Worte andere sind. Die Symptome seines Schlagerls und die erste Hilfe beschreibt er zunächst assoziativ, schnell und atemlos (fast) ohne Punkt und Komma.

Doch nach der Ankunft im Spital wird es ruhiger. In der ersten Nacht legt er sich ungeachtet der Schläuche und Herzkabel vorsichtig auf die geschädigte taube Seite. Dadurch „stellte sich ein frappierendes Gefühl ein: Ich schien zu schweben. Zwischen der unversehrten Körperhälfte und der Matratze lag eine Pufferzone aus tauber Materie. Jetzt war meine gelöschte Körperhälfte zum Luftpolster geworden, durch das heiße Partikel strömten.“ 

Neun Tage lang bleibt der Autor im Spital und verwandelt mit seinem schrägen Blick das Innere des Krankenwagens, die morgendliche Intensivstation oder später den Speisesaal in Theaterbühnen. Hier tritt das kranke oder medizinische Personal auf und stellt groteske Geschichten dar – und der Autor bleibt nicht außen vor, sondern ist darin verwickelt. So nimmt Meyerhoff schreibend Distanz, gerade zu seinen eigenen Ängsten und Kränkungen in beklemmenden Situationen. Ohne larmoyant oder zynisch zu werden. 

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Keine Ostalgie – der Roman „Stern 111“ von Lutz Seiler

Trotz des Ausfalls der Leipziger Buchmesse in der Corona-Pause, erhielt Lutz Seiler den Buchpreis 2020 für den Roman „Stern 111“. Der spielt zwar in der Wendezeit, doch das Buch ist beileibe keine anklagende politische Kritik oder eine sehnsuchtsvolle Verklärung der DDR.

Stattdessen erzählt Seiler die Geschichte des jungen Carl Bischoffs inmitten des Zeiten- und Machtwechsels gleichsam von ganz unten: Die durchaus arrivierten Eltern rufen den Sohn kurz vor dem Mauerfall nach Gera, um ihn mit ihren Fluchtplänen in den Westen zu verwirren. Dazu auserkoren „die Stellung zu halten“, bekommt er die große Wohnung, eine umfangreiche Sammlung wertvoller Werkzeuge sowie das russische Auto Shiguli. Carl schlägt sich eine Zeitlang in der Provinzstadt herum, geht dann aber im Winter 1989 nach Ost-Berlin. Dort übernachtet er am Prenzlauer Berg bei strengem Frost im Auto und erkrankt schwer an einer fieberhaften Erkältung. Anarchistische Hausbesetzer, unentdeckte Künstler und sonstige Außenseiter wohnen als das „kluge Rudel“ in Kellern oder verfallenen Wohnungen am Käthe-Kollwitz-Platz: Sie retten Carl und päppeln ihn auf. Mit dem Werkzeug des Vaters und seinen Kenntnissen als Maurer hat der „Shigulimann“ einen guten Start in der illustren Truppe. Er renoviert besetzte Wohnungen und gründet mit dem Rudel in einem Keller die spätere Szene-Kneipe Assel. Einerseits versucht sich Carl an die Clique anzupassen, ohne an ihren dunklen Geschäften teilzunehmen, andererseits beginnt er Gedichte zu schreiben und zu veröffentlichen. Er trifft sogar Effi wieder, „die einzige Frau in die er je verliebt war“ und beginnt mit ihr eine anstrengende Affäre. Weiterlesen