Frühjahr in der Kunststation

Beim Rundgang durch die Frühjahrsausstellungen in der Kunststation kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Was für eine unglaubliche Vielfalt an Werken – aus verschiedensten Materialen und mit unterschiedlichsten Techniken – haben vier Kunstschaffende in ihren individuellen Ausstellungen zusammengetragen.

Alle Künstlerinnen und Künstler waren zur Eröffnung anwesend, um mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen.

Peter Mayer zeigt zahlreiche Collagen und Installationen aus Hunderten unterschiedlicher Fundstücke, wie Fahrradschläuchen, verwelkten Pflanzen oder Polaroid-Fotos. Bodo Korsig präsentiert riesige Filzobjekte mit herausgeschnittenen Mustern und Installationen. Sonja Kuprat entführt das Publikum in grellfarbige oder finstere Wolkenlandschaften die zum Träumen anregen. Anette Kramer zeigt in der Studioausstellung ihre gezeichneten Figuren mit gleichen Bewegungen aus unterschiedlichen Perspektiven. 

„Wahrnehmung“, betonte Kuratorin Dr. Elisabeth Heil bei der Vernissage, das sei „ein Wort, das immer wieder in Texten über Kunst, Künstlerinnen und Künstler vorkommt.“ Doch Wahrnehmung ist ein komplexer Prozess, der nicht nur die Sinne anspricht, sondern durch innere und äußere Prozesse beeinflusst wird. Kunstschaffende hinterfragen diese Wahrnehmungsprozesse, spielen, verfremden oder irritieren sie bewusst mit ihren Gestaltungen.

„Fluide Bildwelten“, der Titel von Mayers Collagen macht deutlich, dass die vielen Fundstücke die er miteinander verbindet, Momentaufnahmen seiner Erinnerungen sind. Zu jedem „Teilchen“ erzählt er Geschichten, Feldpostbriefe fand er in einem gekauften Haus, Portland-Zementsäcke brachte er aus Marokko mit. Das klingt spannend, aber man muss es nicht wissen, um sich von den riesigen Werken berühren zu lassen, die einen in seiner Schau zunächst begegnen. Man kann zwar versuchen Mayers Geschichten zu entschlüsseln, doch seine Arbeiten sind keine Ratespiele. Es sind ästhetische Kompositionen, die etwas in uns zum Schwingen bringen. 

Korsigs „Gedankenströme“, so der Titel seiner Installationen und Objekte, liegen komplexe neurologische Phänomene zugrunde – aber auch die muss man nicht nachvollziehen, um die einzelnen Arbeiten auf sich wirken zu lassen.

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„Tradition ist nicht das Bewahren der Asche…“

Beinahe ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung, präsentiert ein afrikanisches Tanzensemble die Wiedereinstudierung des “Frühlingsopfers“ von Pina Bausch in Wuppertal. Der Film, der die Erarbeitung des Stückes dokumentiert, erschien jetzt auf DVD.

Aggressive schwarze Tänzer stampfen rhythmisch durch Torf auf dem Bühnenboden. Verzweifelt klammern sich dunkelhäutige Tänzerinnen in weißen Kleidern aneinander, manche winden sich in der Moorerde. Eine der Frauen wird das Opfer und muss sich im roten Kleid zu Tode tanzen… Diese Performance ist kein Als-ob-Theater, die Beteiligten agieren real bis zur völligen Erschöpfung.

Vom Publikum wurde die, bis ins Detail rekonstruierte Choreografie durch die ad hoc gebildete afrikanische Compagnie, frenetisch gefeiert. Bauschs Interpretation der Ballettmusik Igor Strawinskys – in der Tradition des deutschen Ausdruckstanzes – begründete einst den internationalen Ruhm als Pionierin des Tanztheaters und ist bis heute ihr am meisten gespieltes Stück.

Dieses Event ist die erste und exemplarische Kooperation des Wuppertaler Tanztheaters mit der Pina-Bausch-Stiftung ihres Sohnes. 14 Jahre nach dem Tod der Choreografin sind die grotesken Streitereien um ihre Nachfolge überwunden. Der Ausbau des alten Stadttheaters zum Pina-Bausch-Zentrum ist planerisch vollendet, die öffentliche Finanzierung gesichert. Nach einigen Irrwegen sind die Ziele festgelegt: Ihr Werk soll gepflegt, aber ebenfalls neue Wege des Ensembles ermöglicht werden, unter anderem durch die Kooperationen mit Kunstschaffenden aus anderen Bereichen. Die Partizipation des Publikums ist angestrebt, derzeit werden 200 Laien für ein tänzerisches Straßenprojekt gesucht. 

„Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der Flamme.“ Das gilt für das weiterhin gezeigte choreografische Werk der Choreografin. Dessen Themen – was tun Menschen um geliebt zu werden oder der Widerspruch von Nähe und Distanz in der Liebe – sind ja weiterhin hochaktuell. Stets sind die Wuppertaler Vorstellungen ausverkauft und begeistern auch junge Leute. Alljährlich geht die Compagnie auf Welttourneen mit den rekonstruierten Stücken.

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Steven Spielberg: Sein persönlichster Film…

Jeder Film ist eine Fiktion, selbst wenn er auf wahren Begebenheiten beruht: Auch der neue Film Steven Spielbergs „Die Fabelmans“, ist zwar durch seine frühe Lebensgeschichte inspiriert, aber er hat sie kreativ umgestaltet und dramatisiert. Per se changiert die Story also zwischen Fiktion und Wirklichkeit.

Man muss kein Liebhaber des wohl erfolgsreichsten Regisseurs und Produzenten der Kinogeschichte sein, um den Film anzusehen – im Gegenteil! Wenn man Spielberg bisher eher kritisch gegenüberstand, wie der Verfasser dieser Zeilen, nimmt einen „Die Fabelmans“ (ein fiktiver Name) für den Filmemacher ein. Der Streifen beginnt mit dem ersten Kinoerlebnis des sechsjährigen Sammy, den seine Eltern mit ins Kino nehmen wollen, obwohl der Kleine etwas ängstlich ist. „Filme sind doch Träume“, meint seine Mutter beruhigend, aber „Träume sind unheimlich“, erwidert der bockige Junge. 

Die Familie sieht Cecil DeMilles „Die größte Schau der Welt“, in dem ein Auto mit einem Zug zusammenstößt und zwei Züge aufeinanderprallen. Diese Szene lässt Sammy nicht los, immer wieder spielt er sie mit seiner Modelleinbahn nach. Bis seine Mutter auf die Idee kommt, ihm die Super-8-Kamera des Vaters zu geben: „Dann muss der Unfall nicht immer wieder aufs Neue passieren!“ So lässt es der kleine Fabelman nur noch einmal für die Kamera krachen und kann dann den Schreck der garstigen Szene im Kino bewältigen. In Wirklichkeit hat Spielberg dieses Erlebnis erst einige Jahre später gehabt, als er den Streifen heimlich sah. Aber bedeutet diese Verschiebung irgendetwas für diesen Spielfilm? Natürlich nicht, denn authentisch ist, dass am Beginn seiner gigantischen Karriere diese Episode stand.

Die weitere Entwicklung ist schnell erzählt: Sammy ist fasziniert von den Möglichkeiten der filmischen Aufzeichnung und gibt die Kamera nicht mehr aus der Hand. Er hält dokumentarisch die zahlreichen Umzüge der Familie fest, zufällig auch vertrauliche Ereignisse mit dramatischen Hintergründen (die hier nicht verraten werden). Die kleinen Geschwister werden zu Mumien, wenn er sie in Klopapier einwickelt. Später müssen seine Pfadfinder als Cowboys oder Soldaten herhalten, schließlich sogar seine aggressiven antisemitischen Mitschüler. Sammys erste Liebesgeschichte als kleiner Judenjunge mit einer superfrommen Katholikin ist von hinreißender Komik, wie auch andere Begegnungen.

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„TÁR“ Musik Macht Missbrauch

Auf der Berlinale hatte der Film TÁR mit Cate Blanchett seine Deutschland-Premiere, jetzt kommt er in die Kinos

Lydia Tár (Cate Blanchett), die fiktive Stardirigentin der Berliner Philharmoniker, braucht lange um uns in ihre glamouröse Welt mitzunehmen. Zwischen New York und Berlin lebt sie in einer Blase, führt hochelaborierte Gespräche über Musik, trifft angesehene Intellektuelle oder berühmte Musiker und ist besessen von ihrem Job, in dem sie endlich auch noch Gustav Mahlers „Fünfte“ einspielen möchte. Nach gefühlter endloser Kinozeit lernen wir auch ihre Frau Sharon Goodnow (Nina Hoss) und deren adoptiertes Kind Petra (Mila Bogojevic) kennen. Das wird in der Schule gemobbt und Tár lässt es sich nicht nehmen, persönlich einer Peinigerin ihrer Tochter Prügel anzudrohen: „Ich bin Petras Vater!“

Sie geht auch recht ruppig mit den Instrumentalisten ihres Orchesters um und will den Ersatzdirigenten, „diesen Roboter“, loswerden. In ihrem amerikanischen Lehrauftrag führt sie arrogant einen schnöseligen Musikstudenten vor, der sich weigert Bach zu spielen: Weil der so frauenfeindlich gewesen sei, dürfe man ihn heutzutage nicht mehr anhören. Als eine blutjunge russische Cellistin sie bezirzt, gibt sie deren Werben nach und will sie gleich zur Solocellistin machen. 

Tár ist kein sexistisches Monster, aber hier spürt man zum ersten Mal, dass die Grande Dame ihre Macht auch privat nutzt. Dann geht alles sehr schnell, denn die Blase platzt: Ein ehemaliges amerikanisches Orchestermitglied hat sich umgebracht, mit ihr hatte Tár eine Affäre und sie dann fallengelassen. Die Familie macht die Dirigentin für den Tod ihrer Tochter verantwortlich. Gleichzeitig taucht im Internet ein manipuliertes Video vom Streit mit dem Studenten auf. Mehr erfährt man nicht, aber Tár wird nun im wahrsten Sinn des Wortes erlegt: allein aufgrund der Gerüchte wird sie als Dirigentin suspendiert, der Lehrauftrag wird ihr entzogen, die Plattenproduktion macht jetzt „der Roboter“. Nachdem sie ihn auch noch während des Konzerts von der Bühne prügelt, stürzt sie ins Bodenlose…

Im letzten Jahr wurde der Film bei den Filmfestspielen in Venedig uraufgeführt, Blanchett erhielt den Preis für die beste Hauptrolle und wird seitdem für ihre leidenschaftliche Darstellung – „Ein Star spielt einen Star“ – weltweit gefeiert und prämiert.

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Die Transformation Pink Floyds

Das Ensemble Echoes verwandelte am Sonntagabend, mit seinen eigenartig interpretierten Stücken der sagenhaften Band Pink Floyd, die Orangerie in einen Konzertsaal. Auf ihrer Akustiktour nutzt die Gruppe keine elektrischen Instrumente, keine Synthesizer, wohl aber Mikrofone und Verstärker.

Aus dem Bühnennebel ertönt zarte Glasmusik, behutsam setzt eine Klarinette ein, es wird heller. Langsam, äußerst langsam entwickelt sich das Intro. Hohe Gitarrenklänge, dann ganz zart das Klavier. Schließlich erdröhnt satt das Schlagzeug, die Klänge werden voluminöser, nun setzt der Gesang ein: „Remember when you were young / You shone like the Sun. / Shine on you crazy diamond…”

„Erinnere dich als du jung warst“ – aber gleich der erste Song macht auch deutlich, hier wird keine Nostalgie zelebriert, sondern die Echoes transformieren Pink Floyd gleichsam in die Gegenwart. Weitere, eher rockige Titel der Platte „Wish You Were Here“ (1975) mit kräftigen Saxophonklängen folgen, die Sängerin kommt dazu. In der fast ausverkauften Halle entflammt die Band sofort das mitklatschende Publikum. Bald gesellt sich auch das weibliche Streichquartett zu den Musikern, beim Song „Welcome to the Machine“ treibt es mit Geigen und dem markanten Cello den Rhythmus von Bass und Schlagzeug voran. In späteren Stücken unterstützen sie auch mit hohen schrillen Streichtönen die Gitarren, niemals werden sie süßlich.

Vor der Pause erklingt der zwanzigminütige Song „Echoes“, nach dem sich die Gruppe benannte. Das programmatische Werk markierte 1971 den Übergang Pink Floyds, die Entwicklung von Psychedelic- zu Art- und Progressive-Rock. Auch die Interpretation in der Orangerie folgt dem vielschichtigen Aufbau des Originals, der ganzen Spannweite von sanften Klängen, rockiger Musik über heulende, sirrende, atonale Geräusche bis zu Anklängen Neuer Musik: „…And no one sings me lullabies / And no one makes me close my eyes…“

Nach der Pause sind Songs von den Platten „The Dark Side oft he Moon“ (1973) und „The Wall“ (1979) zu hören: „Hey, teacher, leave us kids alone“, singt das Publikum feste mit. Es ist erstaunlich, wie abwechslungsreich und vielschichtig die Echoes mit Titeln von nur drei Platten aus dem 1970er-Jahren, die zweieinhalb Stunden des Abends gestalten. Rockige, manchmal angejazzte Tanzstücke, dann wieder komplexe, achtsam aufgebaute – vom Pathos Pink Floyds befreite – Musikdramen.

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Klagelieder voller Sehnsucht

Sara Nowotny (44) kennt man vielleicht als Mediengestalterin, als Sängerin ist sie jedoch weitaus prominenter. Jahrelang coverte sie Blues- und Soulmusik mit der Band „Good News“ und tourte in Osthessen.

Wir treffen sie im neuem Tonstudio von TAPP, in dem sie mit ihrer Band „BLACK owl“ sechs Stücke aufnimmt. Live präsentierte die Gruppe ihre Songs bereits bei „Rock am Hinkelhof“ im Juli. Ganz in schwarz steht die Sängerin vor dem Mikro, konzentriert sich, schließt die Augen. Die Gitarre beginnt düster, das Schlagzeug setzt ein. Sara wird ganz Stimme und intoniert mit großer Präsenz: „My unfulfilled desires / Pile up high to the sky“ (meine unerfüllten Wünsche / türmen sich bis zum Himmel). Ihre Stimme hat ein dunkles Timbre, der Gesang ist klarer und reifer als früher.

Dieser neue Titel „Goodbye Lullaby“ ist ein Klagelied voller Sehnsucht, auch die weiteren, meist elegischen Songs trägt sie ungekünstelt und eindringlich vor. Selbst wenn man englische Texte nicht gleich völlig versteht, erzeugen die Moll-Klänge und Saras Stimme Gänsehaut… Man fühlt, das wovon sie singt, hat sie wirklich erlebt. 

Trostlos sind ihre Texte nicht, denn man spürt die Power ihrer Kämpfe mit den Unbilden des Lebens: Die Sängerin musste – oder wollte – einige heftige Brüche in der Musik verarbeiten. Man kann nicht alle Erlebnisse ausbreiten, aber einige sind schon bemerkenswert: Sara lernte als Kind zahlreiche Instrumente, später begann sie in Bands zu singen. Mit 21 Jahren bekam sie durch zwei Musiker aus Schlüchtern diverse erfolgreiche Kontakte: Eine Plattenfirma bot ihr einen Vertrag an, für eine TV-Serie sang sie den Titelsong, ihre Coverversion eines Hits von Yazoo kam in die UK-Dance-Charts. 

Für dieses Stück forderten ihre Unterstützer, sie solle sich vier Jahre jünger ausgeben und Performance-Tanz im engen Negligé zum Vollplayback des Songs machen. Das lehnte sie ab: „Da verpflichteten sie ohne mein Wissen eine junge Sängerin, die bei TV-Auftritten zu meiner Stimme die Lippen bewegte.“ Doch zum endgültigen Bruch kam es, weil der damalige Produzent darauf bestand, finanziell und entscheidungsmäßig in den IHR angebotenen Plattenvertrag eingebunden zu werden. „Also ab da war ich raus aus der Musik!“

Sie begann eine Ausbildung als Mediengestalterin, in der sie alle Elemente des Web- und Print-Designs lernte. Direkt nach der Ausbildung machte sie sich selbständig. Acht Jahre später erkrankte sie schwer, konnte zwei Jahre lang nicht mehr arbeiten, holte jedoch das Abitur nach – und begann ein Jurastudium:

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Zwischen Nonsens und Selbstreflexion

Poetry-Slam mit Lars Ruppel im KulturWerk:
Die Aneinanderreihung von Schriftzeichen / man nennt sie Wörter, die etwas bezeichnen / sie flatterten, flogen, piekten oder bohrten / sich fürchterlich geschwind durch unsere Ohren… 

Oder um es nun im Zeitungsdeutsch auszudrücken: Die poetischen Wortkaskaden, die am KulturWerk-Abend auf das Publikum herabprasselten, ließen sich kaum mitschreiben. Diesem Poetry-Slam-Sturzbach ging ein Workshop von Lars Ruppel mit 16 Schülern und Schülerinnen im Hutten-Gymnasium voraus. Bereits am Nachmittag motivierte er die Jugendlichen den inneren Deutschlehrer zu ignorieren und frei von gewohnten Sprachzwängen, einfach drauflos zu dichten. Um „neue Welten zu erschaffen“ bot er ihnen außergewöhnliche Spiele mit Wörtern an. 

Der Poet ermunterte sie, etwa tief im Wortschatzkästchen, unbekannte Synonyme zu suchen: Was kann man denn für Hund oder zum Fliegen sagen (siehe oben die von ihm inspirierte Einleitung des Verfassers dieser Zeilen). Oder das Sprachspiel, schnell sagt nacheinander jeder ein Wort zu einer Geschichte, in einem vorher festgelegten Genre. Heraus kamen absurde, surreale, deutschfehlerhafte und wenig logische Erzählungen. Aber genau mit diesem Spiel schuf er auch abends im Publikum eine entspannte und kreative Atmosphäre. Darin trauten sich sieben Jugendliche mit ihren Texten auf die Bühne und slammten ausdrucksstark über ihr Leben. 

Daraus wollen wir hier klitzekleine Auszüge zitieren. Kathi spielte mit Zahlen und dem Älterwerden: „Mit dreißig dann der erste Schock / Wo ist die Zeit geblieben?“ Pia erkannte, „tausch doch dein Gewissen ein / schuldig will hier keiner sein!“ Kilian fragte, „wer bin ich / ich bin ein lebender Mensch / bin ein liebender Mensch.“ Tim träumte, „ich bin gar nicht hier / zumindest wünsch ich es mir.“ Frida war richtig sauer, „nicht allein durch die nächtlichen Straßen gehen zu können / doch ich liebe das Leben.“ Michelle „sieht in die Zukunft und wird nicht schlau draus“, glaubt aber optimistisch, „dass ich alles schaffen kann.“

Philipp dachte darüber nach, „was soll ich werden? Was ist das Richtige für mich.“ Eine hervorragende Abi-Rede freute sich Moderator Ruppel, der die Themen der jungen Leute jedes Mal aufnahm und kommentierte. Blitzschnell trug er zwischen ihren Auftritten Assoziationen dazu bei, erzählte witzige oder makabre Erinnerungen an die eigene Jugend („Meine Mutter weinte als ich Dichter werden wollte“) und deklamierte seine Gedichte. 

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Hip-Hop trifft zeitgenössischen Tanz

Im ausverkauften Schlosstheater in Fulda präsentierte das siebenköpfige französische Ensemble „Dyptik“ zeitgenössischen Tanz mit Breakdance-Einlagen.

Im Saal ist es dunkel. Ein sirrender Ton steigt an. Das Licht wird langsam heller, beleuchtet eine androgyne Gestalt an einem riesigen Tisch auf der Bühne. Aus der Dunkelheit am Rand lösen sich Tanzende mit drehenden, hockenden, bizarren Bewegungen. Die Töne werden komplexer und bedrohlicher, die einsame Figur am Tisch zittert, zuckt, malt Kreise in die Luft. Behutsam nähern sich die Anderen dem Tisch. Okkupieren ihn, werden aggressiver. Die Solistin verschwindet an den Rand der Rampe. Einzelne lösen sich aus der Gruppe oder werden ausgegrenzt. Kehren wieder zurück. Paare locken einander, nähern sich an, verlieren sich wieder. Der Tisch wird an den Rand geschafft, die Stimmung der Musik und damit auch der Tanzenden changiert zwischen Drama und Entspannung.

Kräftiger und intensiver wird der durch die Musik vorgegebene Tanzrhythmus. Chorische Bewegungen des Ensembles wechseln mit individuellen Ausdrucksformen. „Dyptik“ zeigt Elemente des zeitgenössischen Tanzes mit seinen typischen eigenartigen Bewegungen und akrobatischen Einsprengseln. Unaufhörlich werden die Tanzenden durch die laute Musik, den intensive Rhythmus vorangetrieben. Spürbar ergreifen ihre unbändige Energie und Bewegungslust auch das Publikum.

Manchmal geht eine Tänzerin oder ein Tänzer zu Boden, dreht und windet und überschlägt sich dort im Breakdance. Kehrt zurück in die Formation. Diese artistischen Einlagen entstehen flüssig aus den übrigen Abläufen und Situationen, sie wirken nicht wie künstliche Schaueinlagen. Mal kommt es auch zu „battles“, zu Kämpfen, wie man sie aus der ursprünglichen Hip-Hop-Bewegung kennt: Wer kann die schnellsten, geschicktesten, kunstvollsten Bodenfiguren? Wer gewinnt? Hier bricht gelegentlich auch das Rohe, das Ungeschliffene dieser Kultur hervor: Ein Tänzer zeigt plötzlich sehr lange seine Niederlagen, seine Verzweiflung, seine Hoffnungen in einem endlosen Breakdance am Boden. Das ist keine Schauspielerei, sondern tänzerisch ausgedrückter Kampf und Widerstand gegen das Schicksal. 

Ein großer Tänzer steht träumend auf der Bühne, eine kleine Tänzerin tanzt und reibt sich an ihm, rennt gegen ihn an, windet sich um ihn herum, verschwindet. Der Träumer zittert mit dem Kopf, dann mit seinen Gliedmaßen, schließlich wie irre mit dem ganzen Körper.

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Dornröschen in Kassel

Im Kasseler Staatstheater setzt die Tanzsparte den Diskurs mit Tschaikowskys klassischen Balletten fort. Nach „Schwanensee“ im letzten Jahr, zeigen zwei Gastchoreografinnen zeitgenössische Varianten von „Dornröschen.“

Auf der schneeweißen Bühne schlängelt sich eine schwarzglänzende Gestalt aus einem silbrigen Behältnis. Sie windet, verschlängelt, verbiegt sich. Stakst mit bizarren Bewegungen zu Industrial-Klängen umher. Zuletzt wird sie durch eine riesige, weiß gewandete Figur mit Baby, von der Rampe gezerrt. Mehr und mehr strahlendweiße Tanzende erscheinen und vollführen irrsinnige akrobatische Bewegungen. Sie wirken wie Gummimenschen mit starren Puppenaugen.

In „100 years 100 hearts“ entstehen eigenartige Traumbilder, die man so noch nicht im Tanztheater gesehen hat. Sie alleine sind den Besuch des Doppeltanzabends wert! Mit weiteren Szenarien führt uns die Choreografin Liliane Barros durch unwirkliche Welten. Sie bezieht sich auf Symbole des einst wilden Märchens, das im Laufe seiner Verbreitung stark gekürzt und gezähmt wurde. Ungezügelte, ja böse Unterströmungen der Erzählung werden freigelegt. Doch es gibt auch sanfte Bilder: die Zwillinge die sich in verbindenden Schnüren hin- und herwiegen, menschliche Skulpturen in verhüllenden Tüchern. „Ich bleibe in meiner Kreation abstrakt, visuell, atmosphärisch, intuitiv, archaisch – um den Raum für Assoziationen zu öffnen“, so die Choreografin.

Raum für eigene Interpretationen enthält auch „Dawn and Day“, die zweite Dornröschen-Adaption von Sita Ostheimer. Sie hat jahrzehntelang für den Choreografen Hofesh Shechter gearbeitet, was man ihrem Stück überdeutlich anmerkt. Im Halbdunkeln, ab und zu bei grellem Licht wird unaufhörlich kraftvoll-dynamisch zu rhythmischer Musik getanzt – wie man es von Shechter kennt. Immer und immer und immer wieder auf dem gleichen Level entstehen Tanzbilder, Begegnungen, chorische Bewegungen. Oft sind sie im Dämmerlicht nur schwer zu erkennen. Ostheimer will so die Schichten des Märchens, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden, gleichsam archäologisch wieder ausgraben. 

Weitere Aufführungen am 19. November sowie am 16., 20. 23. und 26. Dezember

Fotos aus „100 years 100 hearts“ von  © Sylwester Pawliczek

„Ach du Scheiße“

Ein deutsches Amalgam aus Thriller, Black Comedy und Horror
„Ach Du Scheiße!“ Diesen schmuddeligen Filmtitel muss man wörtlich nehmen, denn das cineastische Kammerdrama in Echtzeit findet in einem umgefallenen Dixiklo statt. 

Voller Schmerz erwacht ein Mann in dem transportablen Klohäuschen. Auf seinem Arm krabbelt ein Marienkäfer. An der Wand hängt das Poster einer nackten Frau. Als er sich bewegen will, schreit er vor Schmerzen: Mit einem, durch seine linke Hand getriebenen Stahlstab, steckt er fest in seiner Zelle. „Ach Du Scheiße“, entfährt es ihm, als er seine hoffnungslose Situation erkennt.

Von draußen, aus dem Off, plärrt die Lautsprecherstimme des – wie wir später erfahren – zukünftigen und korrupten Bürgermeisters, der von der gleich erfolgenden „Sprengung der alten Villa“ erzählt. Irgendwie wird dem Mann und uns Zuschauern klar, dass dann auch das Klo in die Luft fliegt. Die Stimme aus dem Off zählt die Zeit herunter, „noch zwanzig Minuten“, „noch fünfzehn Minuten“ – und begründet unaufhörlich die ökonomische Notwendigkeit, dieses Gebäude zu beseitigen. Verzweifelt gelingt es dem Gefangenen die Tür aufzustoßen. Sein Handy fällt dabei in die Kacke, mühselig pult er es heraus und schafft es sogar die Polizei anzurufen. Doch die hält ihn für einen Irren als er seine Lage schildert und tut erst einmal – nichts.

Mittlerweile wissen wir, dass der Gefangene Frank (Thomas Niehaus) heißt und der Architekt eines Großprojektes ist, der gegen die Sprengung kämpfte. Durch einen Spalt kann er draußen eine gefesselte und geknebelte Frau erkennen, die kritische Beamtin vom Bauamt. Irgendwann taucht auch sein Widersacher, der zukünftige Bürgermeister auf, ermordet einen schwarzen Sprengmeister und nimmt dem Gefangenen die Illusion, sich selbst befreien zu können. Der Architekt halluziniert seine Freundin herbei, mit der er verliebt in der Kacke liegt…

Die Grundidee des Films, die Handlung nur im Dixiklo spielen zu lassen und fast alle Informationen lediglich durch die Lautsprecherstimme zu bekommen, ist großartig. Aber nach einer dreiviertel Stunde wird es einfach langweilig, auch wenn der Streifen mittlerweile zum Splatterfilm mutiert: das Blut spitzt kräftiger, Körperteile wie der Kopf des Sprengmeisters fliegen durch die Luft. Man schaut sich den Film nur noch deshalb bis zum Ende an um Herauszufinden, wie der Regisseur den Genre-Mix zu Ende bringen will.

Aber wie er das macht, das wird hier natürlich nicht verraten…

Foto:
© Daniel Dornhoefer Neopol-Film

Info:
„Ach Du Scheiße!“, Deutschland 2022, 90 Minuten, FSK 16 Jahre
Regie Lukas Ringer mit Thomas Niehaus, Gedeon Burkhard, Olga von Luckwald und anderen