Widersprüche nicht mit Kitsch zukleistern

„Schneeweisschen und Rosenrot“ ist das zweite Märchen der diesjährigen Brüder-Grimm-Festspiele in Hanau. Die Erzählung von den ungleichen Mädchen gilt als besonders klischeehaft. Doch abermals wird in dieser Inszenierung die traditionelle Geschichte zerlegt und neu erzählt.

Statt vor Kitsch triefender Harmonie betont das Musical – zunächst – die verborgenen Konflikte im Märchen und bringt sie auf die Bühne: Die zarte Schneeweisschen (Kristina Willmaser) ist vorsichtig und häuslich, während die deftige Rosenrot (Annalisa Stephan) mutig Eskapaden erleben möchte: „Ich muss hier raus, nur einmal. Das Abenteuer ruft“, singt sie. Durch einen unüberwindbaren Fluss ist die Welt geteilt, hier leben rationale Menschen, im Gehölz gegenüber magische Geister und Zwerge. Eines Tages können die Mädchen die Banngrenze überwinden. Auf der anderen Seite begegnen sie unwirklichen Wesen und dem bösen Zwerg, dessen Bart in eine Baumspalte eingeklemmt wurde. 

Das haben ihm zwei, auch charakterlich sehr verschiedene Königssöhne angetan, die ebenfalls in den Zauberhain gelangt sind. Dort suchen der „Bücherwurm“ und der „Abenteurer“ nach dem verlorenen Teil der Krone ihres Vaters. Denn einst wurden die rationale und die magische Welt von der „Krone der Eintracht“ zusammengehalten bis sie zerbrach und die Welt spaltete. Die Waldbewohner in ihren fantastischen Kostümen beschimpfen die menschlichen Eindringlinge als „dumme Glattgesichter“ und protestieren: „Wir sind der Wald!“ Aber einige Geschöpfe des Gehölzes wollen die Begegnung mit den Fremden statt sie zu vertreiben.

Natürlich verlieben sich die Königssöhne und die Mädchen, doch Prinz Tristan wird zwischendurch als Bär verzaubert, was die folgende Handlung noch aufregender macht. Ein Waldwesen kann „bärisch“ sprechen und des Tieres Anliegen vermitteln, wieder ein Mensch zu sein. Am Ende werden Gegensätze und Fremdheit versöhnt, ohne Unterschiede zuzukleistern. Zum ersten Mal in ihrem Leben trennen sich die Geschwister. „Viel zu lange war ich in deinem Schatten“, singt Schneeweisschen, dann beide im Chor: „Ich schaffe das alleine!“ 

Jan Radermacher, der das Märchen umschrieb, will die Diversität und Gemeinsamkeiten – nicht nur der Mädchen – beleuchten. Er wirft die Frage auf, „wie kann es ein Miteinander trotz größter Unterschiede geben? Warum macht uns der Gegensatz zu unserem Altbekannten oftmals Angst?“ 

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Die hocherotische Wildsau…

Mit einer modernen Musical-Version des Märchens „Das tapfere Schneiderlein“ begannen die 37. Brüder-Grimm-Festspiele in Hanau. Nachdem der Handwerker sieben Fliegen erschlug („sieben auf einen Streich“), erkämpfte er sich listig ein halbes Königreich und die Prinzessin.

Die Königstochter spielt in den diversen alten Fassungen des Märchens keine Rolle und wird nur verheiratet, hier ist sie eine kritische und nachdenkliche junge Frau. Ständig hat sie ein Buch in der Hand, kocht gerne und wehrt sich gegen das Korsett, in das sie gezwängt wird: „Mich fragt keiner. Ich werde zu allem nicht schweigen, ihr werdet mich hören“, singt sie. Das Schneiderlein ist kein aufgeblasener Angeber, sondern will sich nicht länger schurigeln lassen und aus der Enge seines Dorfes heraus. Dem Helden hilft ein blauer Vogel die Riesen zu besiegen und geschickt andere Prüfungen zu bestehen. 

„Das Volk“ – meistens Frauen – tanzt, singt, kommentiert die Handlung und treibt sie dadurch voran. Durch diese Erneuerungen sowie musikalische Einlagen der Live-Band und Gesänge der Akteure, wird das aktualisierte Märchen sehr abwechslungsreich. Fantastisch das sich ständig verändernde Bühnenbild auf mehreren, sich drehenden Ebenen, dadurch fließen viele Szenen ineinander oder geschehen parallel. 

Das Stück beginnt etwas behäbig, doch schnell bekommt es durch die Tänze der Fliegen, später die choreografierten Kämpfe des Schneiders weitere traumartige Dimensionen: Die vom Helden zu fangende Wildsau ist hocherotisch und tanzt mit Maissträuchern. Der Kampf und schließlich das Arrangement mit dem Einhorn ist eine surreale Choreografie. Die tölpelhaften Riesen sind ein skurriles, wirklich riesiges Paar. Wechselnde farbige Lichtspiele sorgen immer wieder für unterschiedliche Stimmungen.

Die Frauen spielen eine große Rolle in dem Stück, selbstbewusst und kämpferisch wie in unserer Zeit, sind sie nicht länger Objekte männlicher Dominanz. Nicht nur die Prinzessin wehrt sich gegen die höfischen Konventionen, auch dem König wird „das Hierarchische“ manchmal zu viel. Der Schneider kämpft tapfer gegen die korrupte Welt des Adels und fordert seine Rechte, er siegt als Schwacher gegen die Starken oder Überlegenen: sei es gegen die Riesen oder den selbstgefälligen Baron, der mit Betrug versucht die Königstochter für sich zu gewinnen.  Doch am Ende erkennt auch der Handwerker, dass er durch sein Auftreten nicht er selbst werden konnte.

Zwei Aspekte sind wieder einmal bedeutsam: Märchen sind nicht nur etwas für Kinder, das tapfere Schneiderlein wird durchaus zum Erwachsenenstück. Und sie sollten sich erneuern, die Weiterentwicklung der in der Romantik eingefrorenen Erzählungen ist stimmig. Die Inszenierung ist manchmal auch humorvoll und derb – allerdings ohne peinliche Possen.

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