„Tradition ist nicht das Bewahren der Asche…“

Beinahe ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung, präsentiert ein afrikanisches Tanzensemble die Wiedereinstudierung des “Frühlingsopfers“ von Pina Bausch in Wuppertal. Der Film, der die Erarbeitung des Stückes dokumentiert, erschien jetzt auf DVD.

Aggressive schwarze Tänzer stampfen rhythmisch durch Torf auf dem Bühnenboden. Verzweifelt klammern sich dunkelhäutige Tänzerinnen in weißen Kleidern aneinander, manche winden sich in der Moorerde. Eine der Frauen wird das Opfer und muss sich im roten Kleid zu Tode tanzen… Diese Performance ist kein Als-ob-Theater, die Beteiligten agieren real bis zur völligen Erschöpfung.

Vom Publikum wurde die, bis ins Detail rekonstruierte Choreografie durch die ad hoc gebildete afrikanische Compagnie, frenetisch gefeiert. Bauschs Interpretation der Ballettmusik Igor Strawinskys – in der Tradition des deutschen Ausdruckstanzes – begründete einst den internationalen Ruhm als Pionierin des Tanztheaters und ist bis heute ihr am meisten gespieltes Stück.

Dieses Event ist die erste und exemplarische Kooperation des Wuppertaler Tanztheaters mit der Pina-Bausch-Stiftung ihres Sohnes. 14 Jahre nach dem Tod der Choreografin sind die grotesken Streitereien um ihre Nachfolge überwunden. Der Ausbau des alten Stadttheaters zum Pina-Bausch-Zentrum ist planerisch vollendet, die öffentliche Finanzierung gesichert. Nach einigen Irrwegen sind die Ziele festgelegt: Ihr Werk soll gepflegt, aber ebenfalls neue Wege des Ensembles ermöglicht werden, unter anderem durch die Kooperationen mit Kunstschaffenden aus anderen Bereichen. Die Partizipation des Publikums ist angestrebt, derzeit werden 200 Laien für ein tänzerisches Straßenprojekt gesucht. 

„Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der Flamme.“ Das gilt für das weiterhin gezeigte choreografische Werk der Choreografin. Dessen Themen – was tun Menschen um geliebt zu werden oder der Widerspruch von Nähe und Distanz in der Liebe – sind ja weiterhin hochaktuell. Stets sind die Wuppertaler Vorstellungen ausverkauft und begeistern auch junge Leute. Alljährlich geht die Compagnie auf Welttourneen mit den rekonstruierten Stücken.

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Steven Spielberg: Sein persönlichster Film…

Jeder Film ist eine Fiktion, selbst wenn er auf wahren Begebenheiten beruht: Auch der neue Film Steven Spielbergs „Die Fabelmans“, ist zwar durch seine frühe Lebensgeschichte inspiriert, aber er hat sie kreativ umgestaltet und dramatisiert. Per se changiert die Story also zwischen Fiktion und Wirklichkeit.

Man muss kein Liebhaber des wohl erfolgsreichsten Regisseurs und Produzenten der Kinogeschichte sein, um den Film anzusehen – im Gegenteil! Wenn man Spielberg bisher eher kritisch gegenüberstand, wie der Verfasser dieser Zeilen, nimmt einen „Die Fabelmans“ (ein fiktiver Name) für den Filmemacher ein. Der Streifen beginnt mit dem ersten Kinoerlebnis des sechsjährigen Sammy, den seine Eltern mit ins Kino nehmen wollen, obwohl der Kleine etwas ängstlich ist. „Filme sind doch Träume“, meint seine Mutter beruhigend, aber „Träume sind unheimlich“, erwidert der bockige Junge. 

Die Familie sieht Cecil DeMilles „Die größte Schau der Welt“, in dem ein Auto mit einem Zug zusammenstößt und zwei Züge aufeinanderprallen. Diese Szene lässt Sammy nicht los, immer wieder spielt er sie mit seiner Modelleinbahn nach. Bis seine Mutter auf die Idee kommt, ihm die Super-8-Kamera des Vaters zu geben: „Dann muss der Unfall nicht immer wieder aufs Neue passieren!“ So lässt es der kleine Fabelman nur noch einmal für die Kamera krachen und kann dann den Schreck der garstigen Szene im Kino bewältigen. In Wirklichkeit hat Spielberg dieses Erlebnis erst einige Jahre später gehabt, als er den Streifen heimlich sah. Aber bedeutet diese Verschiebung irgendetwas für diesen Spielfilm? Natürlich nicht, denn authentisch ist, dass am Beginn seiner gigantischen Karriere diese Episode stand.

Die weitere Entwicklung ist schnell erzählt: Sammy ist fasziniert von den Möglichkeiten der filmischen Aufzeichnung und gibt die Kamera nicht mehr aus der Hand. Er hält dokumentarisch die zahlreichen Umzüge der Familie fest, zufällig auch vertrauliche Ereignisse mit dramatischen Hintergründen (die hier nicht verraten werden). Die kleinen Geschwister werden zu Mumien, wenn er sie in Klopapier einwickelt. Später müssen seine Pfadfinder als Cowboys oder Soldaten herhalten, schließlich sogar seine aggressiven antisemitischen Mitschüler. Sammys erste Liebesgeschichte als kleiner Judenjunge mit einer superfrommen Katholikin ist von hinreißender Komik, wie auch andere Begegnungen.

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„TÁR“ Musik Macht Missbrauch

Auf der Berlinale hatte der Film TÁR mit Cate Blanchett seine Deutschland-Premiere, jetzt kommt er in die Kinos

Lydia Tár (Cate Blanchett), die fiktive Stardirigentin der Berliner Philharmoniker, braucht lange um uns in ihre glamouröse Welt mitzunehmen. Zwischen New York und Berlin lebt sie in einer Blase, führt hochelaborierte Gespräche über Musik, trifft angesehene Intellektuelle oder berühmte Musiker und ist besessen von ihrem Job, in dem sie endlich auch noch Gustav Mahlers „Fünfte“ einspielen möchte. Nach gefühlter endloser Kinozeit lernen wir auch ihre Frau Sharon Goodnow (Nina Hoss) und deren adoptiertes Kind Petra (Mila Bogojevic) kennen. Das wird in der Schule gemobbt und Tár lässt es sich nicht nehmen, persönlich einer Peinigerin ihrer Tochter Prügel anzudrohen: „Ich bin Petras Vater!“

Sie geht auch recht ruppig mit den Instrumentalisten ihres Orchesters um und will den Ersatzdirigenten, „diesen Roboter“, loswerden. In ihrem amerikanischen Lehrauftrag führt sie arrogant einen schnöseligen Musikstudenten vor, der sich weigert Bach zu spielen: Weil der so frauenfeindlich gewesen sei, dürfe man ihn heutzutage nicht mehr anhören. Als eine blutjunge russische Cellistin sie bezirzt, gibt sie deren Werben nach und will sie gleich zur Solocellistin machen. 

Tár ist kein sexistisches Monster, aber hier spürt man zum ersten Mal, dass die Grande Dame ihre Macht auch privat nutzt. Dann geht alles sehr schnell, denn die Blase platzt: Ein ehemaliges amerikanisches Orchestermitglied hat sich umgebracht, mit ihr hatte Tár eine Affäre und sie dann fallengelassen. Die Familie macht die Dirigentin für den Tod ihrer Tochter verantwortlich. Gleichzeitig taucht im Internet ein manipuliertes Video vom Streit mit dem Studenten auf. Mehr erfährt man nicht, aber Tár wird nun im wahrsten Sinn des Wortes erlegt: allein aufgrund der Gerüchte wird sie als Dirigentin suspendiert, der Lehrauftrag wird ihr entzogen, die Plattenproduktion macht jetzt „der Roboter“. Nachdem sie ihn auch noch während des Konzerts von der Bühne prügelt, stürzt sie ins Bodenlose…

Im letzten Jahr wurde der Film bei den Filmfestspielen in Venedig uraufgeführt, Blanchett erhielt den Preis für die beste Hauptrolle und wird seitdem für ihre leidenschaftliche Darstellung – „Ein Star spielt einen Star“ – weltweit gefeiert und prämiert.

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Berlinale 2022

Gestern Abend begannen die Filmfestspiele in Berlin mit „Peter von Kant“, einer kühnen Interpretation des Fassbinder-Streifens „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ durch den Regisseur François Ozon. Der rote Teppich ist vor dem Berlinale-Palast ausgerollt und die Hauptstadt hängt voller stilisierter Bärenplakate: Die 72. Berlinale findet tatsächlich statt, wenn auch mit strengen Hygienekonzepten, 50% weniger Plätzen und einem etwas eingeschränkten Programm. Dennoch überschlugen sich hämische Kommentare in manchen Medien und Netzwerken, die Filmbranche wolle doch nur sich selber ohne Rücksicht auf Verluste feiern – aber das Gegenteil ist der Fall! Manche filmwirtschaftliche und andere Industrial Events finden eher online statt, das größte Publikumsfestival der Welt wollte jedoch die Kinofans nicht enttäuschen und zeigt 256 Filme dem öffentlichen Publikum.

Der Wettbewerb wurde um einige Tage gekürzt, die Bärenverleihung findet bereits am Mittwoch statt, dafür muss man als Journalist einige Male vier Streifen am Tag ansehen. Doch für das Publikum werden dadurch mehr Aufführungen wiederholt. Während bei den beiden anderen großen Filmfestivals in Venedig und Cannes die Stars, Cineasten und Prominenten meist unter sich bleiben, kamen in Berlin in den letzten Jahren jeweils weit über 300.000 normale Besucher und Besucherinnen in die Festival-Lichtspielhäuser. Mit dem Anspruch „Berlinale Goes on Kiez“ werden, wie in den letzten Jahren, kleinere Programmkinos in den Stadtteilen Aufführungen wiederholen. 

Das Publikum kann nun alle Filmschaffenden in diesem Jahr wieder auf dem roten Teppich, im Festspielpalast und anderen Orten live erleben. Nach der vorletzten Berlinale 2020 begann wenige Tage später der erste deutsche Lockdown mit seinen einschneidenden Konsequenzen für alle Kulturbereiche. Im letzten Jahr war das Festival zweigeteilt, wir Journalisten durften im Frühjahr sämtliche Beiträge aller Sektionen im heimischen Fernsehen oder auf dem Computer gucken, im Sommer konnte man die populärsten Streifen in Berliner Open-Air-Kinos sehen. Dort gab es dann eher fröhliche Biergartenstimmung als intensive Kinoerlebnisse.

Wie immer wird viel über den Wettbewerb mit seinen 18 Werke diskutiert: Ist es ausreichend, dass „nur“ sieben Filmemacherinnen dabei sind? Warum gibt es lediglich zwei deutsche Beiträge und nur einen aus Hollywood? Nun ja, der Anteil von weiblichen Filmschaffenden auf dem Festival war schon immer beträchtlich höher als bei vergleichbaren Events. Die Berlinale ist kein Heimatfest, es gab bisher auch viele Festspiele ohne teutonische Streifen im Wettbewerb.

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Die 71. Berlinale im Home Office (3)

Die Erwartungen an die cineastische Qualität auf der diesjährigen zweigeteilten Berlinale durften nicht allzu hoch sein: Aufgrund der Pandemie wurden wenig Kinofilme produziert, viele Streifen werden noch zurückgehalten. So gelangten in alle Sektionen des 71. Festivals auch etliche mittelmäßige Filme. 

Statt wie sonst 400 Streifen gab es nur ein Drittel, die ausschließlich online für Filmschaffende und Kunden des Europäischen Filmmarktes (EFM) sowie Presseleute zu sehen waren. Statt klugen Pressekonferenzen oder Schaulaufen auf dem rotem Teppich mit internationalen Stars, musste man in den Computer glotzen. Doch im Juni wird der zweite Festival-Teil in Berliner Kinos für das Publikum mit Preisverleihungen nachgeholt.

Eins muss man der Wettbewerbs-Jury bei ihrer nicht immer nachvollziehbaren Bärenauswahl lassen, ihr gelang ein Parforceritt durch die Fülle des zeitgenössischen Kinos. So wie das gekürzte Gesamtprogramm bildeten ebenfalls ihre Entscheidungen im Wettbewerb diese Vielfalt ab: Von extremen Experimenten über berührende Dokumentationen, endlosen Gesprächsmitschnitten bis zu bildgewaltigen Erzählungen.

Den goldenen Bären gab es für einen Film, der im Titel „Bad Luck Banging or Loony Porn“ sein Thema anklingen lässt: Er beginnt mit ausgiebigem Sex einer Lehrerin mit ihrem Ehemann, wie man ihn im normalen Kino noch nie sehen konnte. Später läuft die weibliche Darstellerin lange (angezogen) durch Bukarest zu einer Elternversammlung. Denn der Clip ihres sexuellen Abenteuers wurde durch Unbekannte ins Netz gestellt. Von den aufgebrachten Eltern wird ihr nach wirren bigotten Diskussionen unterstellt, sie sei als Pädagogin ungeeignet. Der Mittelteil des Werks besteht aus zahlreichen Clips zu Stichworten wie Faschismus, Selbstbefriedigung oder Freiheit, die assoziativ den Zustand der rumänischen Gesellschaft skizzieren. Ein wenig erinnert dieser überzeugende Montage-Film an westliche Experimente in den 1970er-Jahren.

Die wunderbare Dokumentation „Herr Bachmann und seine Schüler“ bekam einen Silberbären als „Preis der Jury“. Der ältere Lehrer Bachmann versucht in Stadtallendorf geflüchteten, heimatlos gewordenen Schülerinnen und Schülern einfühlsam, aber auch konsequent, ein Stück Heimat wiederzugeben. Ebenfalls einen Silberbären erhielt Maren Eggert für ihre darstellerische Leistung in dem weiteren deutschen Wettbewerbsbeitrag „Ich bin dein Mensch“. Darin spielt sie eine alleinstehende selbständige Frau, für die ein lebensechter Roboter gebaut wurde, der alle ihre Wünsche erahnen kann. Das ist kein Science Fiction, sondern ein spannender und humorvoller Streifen über Paarbeziehungen. Wie immer hätten Werke in anderen Sektionen allemal silberne Bären verdient gehabt. 

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Die 71. Berlinale im Home Office (2)

Fast zwei Jahrzehnte lang hat Dieter Kosslick (72) erfolgreich die Berliner Filmfestspiele geleitet und erweitert. Jetzt zur 71. Berlinale – die wegen Corona extrem verändert und gesplittet wird – erscheinen seine Memoiren „Immer auf dem Teppich bleiben.“

Bis zu 350.000 Leute besuchten bis zum Ende seiner Ära 2019 jährlich die Festspiele. Doch der charismatische Leiter machte die Berlinale nicht nur zum größten Publikumsfestival der Welt. Sondern er verband die distanzierte europäische Filmindustrie (EFM) mit der Berlinale, holte den deutschen Film zurück, knüpfte weltweite Kooperationen und förderte die Begegnungen des cineastischen Nachwuchses mit arrivierten Filmschaffenden. Aus diesen, von ihm neu entwickelten Bereichen entstand jetzt die erste Stufe der diesjährigen Corona-Berlinale, das Industry Event. Vor allem für zehntausende von Fachbesuchern und jungen Filmschaffenden war dieser Zweig des Festivals – unbeachtet von Öffentlichkeit und Medien – bisher Mittelpunkt der Festspiele.

Der Kinoliebhaber Kosslick wollte nicht nur eine bessere Welt auf der Leinwand sehen, sondern engagierte sich – auch innerhalb der Berlinale – für Frauenrechte und weibliche Gleichstellung, gegen Rassismus, für Flüchtlinge und nachhaltige ökologische Veränderungen. Das waren keine aufgesetzten Attitüden, sondern im ersten Teil seiner Erzählungen macht er deutlich, welche Themen ihn schon früh bewegten. Etwa in den späten 1970er-Jahren schrieb er in der linken „konkret“ über das Bienensterben oder Essen und Trinken ohne Gift und chemische Zusätze. 

Von den Genossen hieß es, das sei doch allenfalls ein Nebenwiderspruch: Ein Grund für ihn, den Journalismus aufzugeben und die Hamburger Filmförderung, später dann das neue Büro der Filmschaffenden zu managen. Den gut einhundert Gründern, die seinen Lieblingsstreifen wissen wollten, nannte er „Ben Hur“: „Es wäre kontraproduktiv gewesen, einen Film aus der Reihe der Anwesenden zu nennen“, schreibt er. Dieser gigantische Hollywood-Streifen hatte ihn als Elfjährigen zum lebenslangen Kinofan erweckt. 

Kosslick lernte deutsche und europäische Filmschaffende kennen, widmete sich der Filmförderung und der Zusammenarbeit mit dem Fernsehen, was allerlei Leute überraschte. Schließlich wurde er zum Chef der nordrheinwestfälischen Filmproduktion berufen. Nach zehn Jahren in diesem Gremium machte er sich im Jahr 2001 – bestens informiert und vernetzt – auf zur Leitung der Berlinale, die er seit zwanzig Jahren regelmäßig besuchte. „Das schien kein begehrenswerter Job zu sein“, wusste er bereits, dennoch brauchte er lange um zu begreifen, dass „ehrverletzende Beleidigungen einer Handvoll Fachjournalist*innen mehr zur persönlichen Profilierung dienten und weniger die Filme betrafen.“

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Die 71. Berlinale im Home Office (1)

Es ist saukalt, die Berlinale beginnt mit einigen Wochen Verspätung, doch statt mit der Berliner S-Bahn zum Potsdamer Platz zu fahren, steige ich auf den großen Dachboden der Wohngemeinschaft und mache Feuer an. Später sitze ich dann alleine im „Dachbodenkino“ vor der mächtigen Leinwand und schaue online Filme.

Ich vermisse den großen Berlinale-Palast mit den Wettbewerbsfilmen und die kleinen Kinos mit den experimentellen Filmen. Mir fehlt das Stöhnen, Lachen, Meckern oder Klatschen der Kolleginnen und Kollegen. Ich hätte so gerne die Pressekonferenzen mit der Nähe zu den Filmleuten sowie die Gespräche zwischen den Aufführungen, die Hektik und die Müdigkeit, die Qual der Wahl zwischen den diversen Filmen… 

Dennoch kommen sogar auf meinem Dachboden Kinogefühle auf: an einen anderen Ort gehen, in der Dunkelheit sitzen, später ins Sonnenlicht treten. Ich entdecke einen großen Vorteil, ich kann zappen! Täglich werden online etwa 30 Filme aus allen Sektionen – wie Wettbewerb, Berlinale-Specials, Generation oder Perspektive Deutsches Kino – angeboten. Die kann man von 7 Uhr morgens bis 24 Uhr niemals alle sehen, aber es ist möglich in viele hineinzuklicken und nach einer Viertelstunde zu wissen: Oh, den möchte ich weitersehen oder ach nee, schon wieder ein gut gemeinter aber langweilig erzählter Flüchtlings-, Beziehungs-, erste-Liebe- oder Politfilm.

Mein erster Eindruck: Die besten Filme laufen in der Sektion Panorama und in Berlinale Specials: Tim Fehlmanns („Hell“) Endzeitdrama „Tide“, mit undeutlichen Bildern in Schlamm und Wasser. Anne Zohra Berracheds („24 Wochen“) „Die Welt wird eine andere sein“ ist eine melodramatische Liebesgeschichte zwischen einer weltoffenen Türkin und einem islamistischen Libanesen in Deutschland. Aber auch Maria Schraders Wettbewerbsfilm „Ich bin Dein Mensch“ ist durchaus großes Kino, in dem ein menschenechter Roboter speziell für eine Frau gebaut wurde. 

Doch der sogenannte Wettbewerb ist eigentlich ein Witz: Kümmerliche 14 Filme, die wir Presseleute vorab sehen dürfen (Daniel Brühls und Dominik Grafs Streifen sind nicht zur Online-Ansicht freigegeben) und die Restjury besteht nur noch aus vier ehemaligen Bärenpreisträgern*innen. Die Gold- und Silberbären sowie die anderen Preise werden am Freitag bekanntgegeben und erst im zweiten Teil der Berlinale im Juni vergeben. Dann soll durch die geöffneten Kinos wieder die Atmosphäre eines Publikumsfestivals entstehen.

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Ein Münsterer Tatort im Zwischenreich: „Limbus“

So viel ist sicher: Dieser 37. Tatort aus Münster wird nicht nur die Fans von Börne und Thiel irritieren, sondern auch die Tatort-Gemeinde spalten. Statt der ewigen Frotzeleien zwischen den beiden Kontrahenten, erleben die Zuschauer eine irrsinnige Geschichte, in der es wenig zu lachen gibt.

Lange, dunkle unterirdische Gänge. Altmodische Paternoster. Knöcheltiefes Wasser in düsteren Büros. Nach einem schweren Autounfall findet sich Professor Börne  im Limbus wieder, in der Vorhölle zwischen Leben und Tod – während er zugleich im Krankenhaus im Sterben liegt. „Wir sind froh über jede Stunde, die wir ihn noch am Leben erhalten können“, sagt die Ärztin seinen Münsterer Kolleginnen und Kollegen. Noch am Vorabend hatten sie in einer Kneipe vom Professor Abschied genommen, weil der sich eine Zeitlang beurlauben ließ, um ein Buch über den Tod zu schreiben. 

So viel können wir hier von diesen surrealen Ereignissen bereits verraten, weil die makabre Mischung – von Tatort-Krimi und Börne als Wiedergänger im Zwischenreich – nach fünf Minuten des TV-Films klar sind.

Kommissar Thiel glaubt nicht an Börnes schweren Unfall mit 180 km/h auf der nächtlichen Landstraße: „Das ist nicht seine Art! Außerdem war er stocknüchtern, als er die Kneipe verließ.“ Während der Kommissar gegen den Willen der Staatsanwältin Klemm klassisch ermittelt, versucht der Professor verzweifelt als Untoter die Ermittlungen zu beeinflussen und seine Assistentin Frau Haller („Alberich“) zu kontaktieren. Jedoch zwischen der realen Welt und dem Limbus ist keine Kommunikation möglich, allenfalls kann Alberich ihren Ex-Chef vage spüren, wenn der seine Hand auf ihre Schulter legt. Erst als sie kurzzeitig selbst dem Tod nahe ist, kann der Wiedergänger mit ihr Kontakt aufnehmen und sie warnen.

In der Zwischenwelt trifft der Untote auch auf die Ermittlerin Nadeshda aus Münster, die vor einiger Zeit im Tatort „Das Team“ ermordet wurde. Sie befindet sich ebenfalls noch im Limbus, hat sich dort aber verlaufen. „Der sieht ja aus wie Thiel“, sagt sie über den Geschäftsführer (den man früher Teufel nannte), der Börnes nahenden Tod bearbeitet und ebenfalls von Axel Prahl gespielt wird.

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Interview mit Nina Hoss

„Pelikanblut“ und „Schwesterlein“ – erst jetzt kommen zwei Filme mit Nina Hoss in die Kinos, die bereits vor der Corona-Pandemie anlaufen sollten. In „Pelikanblut“ spielt sie Wiebke, eine Mutter, die mit allen Mitteln um das Vertrauen ihres zweiten Adoptivkindes Raya kämpft. Der Streifen „Schwesterlein“ zeigt sie als Lisa im Ringen mit dem Tod des kranken Zwillingsbruders (siehe Filmbesprechungen). In beiden Filmen hat man das Gefühl, dass die Schauspielerin selbst an ihre Grenzen geht. Aber gar nicht durch dramatisches oder exzessives Spiel, sondern durch spürbare Einfühlung in die Figuren und die Authentizität ihrer Darstellung.

Beide von ihr gespielten Frauen kämpfen (scheinbar) mit fehlender instrumenteller Vernunft und akademischer Logik – ohne Rücksicht auf ihr mahnendes Umfeld – gegen ein unabänderliches Schicksal. Im Gespräch geht Nina Hoss tief in die Details, sagt aber viel Allgemeines über die von ihr dargestellten Frauen und ihre Arbeit.

Frage: 
Sind die beiden Figuren besessen oder sind sie voller Glaube, Liebe, Hoffnung?

(lacht) Ich kann die Kraft beider Frauen individuell erklären: Wiebke weiß in „Pelikanblut“ als „Horsemanship“-Frau,hier sagt man fälschlich Pferdeflüsterin, dass Tiere trotz schlechter Erfahrungen mit Menschen wieder Vertrauen gewinnen können: Ohne Druck und Gewalt. Was sie da verstanden hat, will sie auch mit ihrem neuen Adoptivkind verwirklichen. Sie ist ja eine unglaublich einfühlsame Frau, die Vertrauen herstellen kann. 

Den beiden Mädchen aus Bulgarien, nur da darf man sie als alleinerziehende berufstätige Frau adoptieren, will Wiebke auf ihrer „Ranch“ größtmögliche Freiheit und Entwicklungsmöglichkeit gewähren. Jetzt funktioniert das aber nicht so, wie sie es sich vorgestellt hat. Was heißt das, wenn ich auf Widersprüche, auf Hindernisse stoße? Wie schnell sage ich, ach, das lasse ich sein und gebe den anderen auf… 

Frage 
…das ist in Wiebkes Leben nicht vorgesehen?

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Zum Film „Schwesterlein“

Geht sie, tanzt er mit dem Tod!

Während uns die Kamera ins Krankenhaus bringt, hören wir das Brahmslied „Schwesterlein, Schwesterlein, Wann geh’n wir nach Haus?“ Immer eindringlicher singt der besorgte Bruder diese Frage an die Schwester. Doch die will weiter tanzen und nicht weg, „geh ich, tanzt er mit ihr!“ Im Film ist Lisa (Nina Hoss) das besorgte „Schwesterlein“, das sich selbst sinnbildlich zu Tode tanzt, während doch ihr Bruder Sven (Lars Eidinger) bald sterben muss: Geht sie, tanzt er mit dem Tod, deshalb kann sie ihn nicht loslassen!

Sie hat soeben in einer Schweizer Klinik Knochenmark für den, an Leukämie erkrankten Zwillingsbruder gespendet. Mit ihrer Familie lebt sie hier, reist jedoch mit dem totkranken Sven nach Berlin zurück, wo er der Star in der Schaubühne ist. Hier stürmt der Schauspieler ins Theater. Greift sich die Hamlet-Krone. Taumelt in die Proben für sein Shakespeare-Stück. Deklamiert „Bereit sein ist alles!“ Doch Regisseur David (Thomas Ostermeier) hat Zweifel an dieser Bereitschaft.

Lisa unterstützt das Verlangen des Bruders wieder auf die Bühne zu gehen: Ihr Mann tobt, „die Kinder sollen sein Sterben nicht erleben.“ Svens Mutter keift, „ich will mir nicht ansehen, wie er dahinsiecht“. Und der Regisseur setzt schließlich „Hamlet“ ab: „Ich wollte Sven nicht vor den Zuschauern abkratzen lassen!“ Doch Lisa hält das für „Quatsch! Der steht bald wieder auf der Bühne.“ Seit der Diagnose des Bruders hat sie, die erfolgreiche Theaterautorin, nichts mehr schreiben können. Doch angesichts des Todes erwacht ihre Kreativität, „sie rast im fröhlichen Braus“, wie es im Brahmslied heißt: Für Sven schreibt sie einen intensiven Monolog, den er auch sitzend sprechen könnte. 

„Schwesterlein“
Schweiz 2020, 101 Min. FSK ab 12 Jahre, Kinostart 29.10.2020
Regie Stéphanie Chuat/ Véronique Reymond mit Nina Hoss, Lars Eidinger, Marthe Keller, Jens Albinus u.a.