Die 71. Berlinale im Home Office (3)

Die Erwartungen an die cineastische Qualität auf der diesjährigen zweigeteilten Berlinale durften nicht allzu hoch sein: Aufgrund der Pandemie wurden wenig Kinofilme produziert, viele Streifen werden noch zurückgehalten. So gelangten in alle Sektionen des 71. Festivals auch etliche mittelmäßige Filme. 

Statt wie sonst 400 Streifen gab es nur ein Drittel, die ausschließlich online für Filmschaffende und Kunden des Europäischen Filmmarktes (EFM) sowie Presseleute zu sehen waren. Statt klugen Pressekonferenzen oder Schaulaufen auf dem rotem Teppich mit internationalen Stars, musste man in den Computer glotzen. Doch im Juni wird der zweite Festival-Teil in Berliner Kinos für das Publikum mit Preisverleihungen nachgeholt.

Eins muss man der Wettbewerbs-Jury bei ihrer nicht immer nachvollziehbaren Bärenauswahl lassen, ihr gelang ein Parforceritt durch die Fülle des zeitgenössischen Kinos. So wie das gekürzte Gesamtprogramm bildeten ebenfalls ihre Entscheidungen im Wettbewerb diese Vielfalt ab: Von extremen Experimenten über berührende Dokumentationen, endlosen Gesprächsmitschnitten bis zu bildgewaltigen Erzählungen.

Den goldenen Bären gab es für einen Film, der im Titel „Bad Luck Banging or Loony Porn“ sein Thema anklingen lässt: Er beginnt mit ausgiebigem Sex einer Lehrerin mit ihrem Ehemann, wie man ihn im normalen Kino noch nie sehen konnte. Später läuft die weibliche Darstellerin lange (angezogen) durch Bukarest zu einer Elternversammlung. Denn der Clip ihres sexuellen Abenteuers wurde durch Unbekannte ins Netz gestellt. Von den aufgebrachten Eltern wird ihr nach wirren bigotten Diskussionen unterstellt, sie sei als Pädagogin ungeeignet. Der Mittelteil des Werks besteht aus zahlreichen Clips zu Stichworten wie Faschismus, Selbstbefriedigung oder Freiheit, die assoziativ den Zustand der rumänischen Gesellschaft skizzieren. Ein wenig erinnert dieser überzeugende Montage-Film an westliche Experimente in den 1970er-Jahren.

Die wunderbare Dokumentation „Herr Bachmann und seine Schüler“ bekam einen Silberbären als „Preis der Jury“. Der ältere Lehrer Bachmann versucht in Stadtallendorf geflüchteten, heimatlos gewordenen Schülerinnen und Schülern einfühlsam, aber auch konsequent, ein Stück Heimat wiederzugeben. Ebenfalls einen Silberbären erhielt Maren Eggert für ihre darstellerische Leistung in dem weiteren deutschen Wettbewerbsbeitrag „Ich bin dein Mensch“. Darin spielt sie eine alleinstehende selbständige Frau, für die ein lebensechter Roboter gebaut wurde, der alle ihre Wünsche erahnen kann. Das ist kein Science Fiction, sondern ein spannender und humorvoller Streifen über Paarbeziehungen. Wie immer hätten Werke in anderen Sektionen allemal silberne Bären verdient gehabt. 

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Die 71. Berlinale im Home Office (1)

Es ist saukalt, die Berlinale beginnt mit einigen Wochen Verspätung, doch statt mit der Berliner S-Bahn zum Potsdamer Platz zu fahren, steige ich auf den großen Dachboden der Wohngemeinschaft und mache Feuer an. Später sitze ich dann alleine im „Dachbodenkino“ vor der mächtigen Leinwand und schaue online Filme.

Ich vermisse den großen Berlinale-Palast mit den Wettbewerbsfilmen und die kleinen Kinos mit den experimentellen Filmen. Mir fehlt das Stöhnen, Lachen, Meckern oder Klatschen der Kolleginnen und Kollegen. Ich hätte so gerne die Pressekonferenzen mit der Nähe zu den Filmleuten sowie die Gespräche zwischen den Aufführungen, die Hektik und die Müdigkeit, die Qual der Wahl zwischen den diversen Filmen… 

Dennoch kommen sogar auf meinem Dachboden Kinogefühle auf: an einen anderen Ort gehen, in der Dunkelheit sitzen, später ins Sonnenlicht treten. Ich entdecke einen großen Vorteil, ich kann zappen! Täglich werden online etwa 30 Filme aus allen Sektionen – wie Wettbewerb, Berlinale-Specials, Generation oder Perspektive Deutsches Kino – angeboten. Die kann man von 7 Uhr morgens bis 24 Uhr niemals alle sehen, aber es ist möglich in viele hineinzuklicken und nach einer Viertelstunde zu wissen: Oh, den möchte ich weitersehen oder ach nee, schon wieder ein gut gemeinter aber langweilig erzählter Flüchtlings-, Beziehungs-, erste-Liebe- oder Politfilm.

Mein erster Eindruck: Die besten Filme laufen in der Sektion Panorama und in Berlinale Specials: Tim Fehlmanns („Hell“) Endzeitdrama „Tide“, mit undeutlichen Bildern in Schlamm und Wasser. Anne Zohra Berracheds („24 Wochen“) „Die Welt wird eine andere sein“ ist eine melodramatische Liebesgeschichte zwischen einer weltoffenen Türkin und einem islamistischen Libanesen in Deutschland. Aber auch Maria Schraders Wettbewerbsfilm „Ich bin Dein Mensch“ ist durchaus großes Kino, in dem ein menschenechter Roboter speziell für eine Frau gebaut wurde. 

Doch der sogenannte Wettbewerb ist eigentlich ein Witz: Kümmerliche 14 Filme, die wir Presseleute vorab sehen dürfen (Daniel Brühls und Dominik Grafs Streifen sind nicht zur Online-Ansicht freigegeben) und die Restjury besteht nur noch aus vier ehemaligen Bärenpreisträgern*innen. Die Gold- und Silberbären sowie die anderen Preise werden am Freitag bekanntgegeben und erst im zweiten Teil der Berlinale im Juni vergeben. Dann soll durch die geöffneten Kinos wieder die Atmosphäre eines Publikumsfestivals entstehen.

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Ein Münsterer Tatort im Zwischenreich: „Limbus“

So viel ist sicher: Dieser 37. Tatort aus Münster wird nicht nur die Fans von Börne und Thiel irritieren, sondern auch die Tatort-Gemeinde spalten. Statt der ewigen Frotzeleien zwischen den beiden Kontrahenten, erleben die Zuschauer eine irrsinnige Geschichte, in der es wenig zu lachen gibt.

Lange, dunkle unterirdische Gänge. Altmodische Paternoster. Knöcheltiefes Wasser in düsteren Büros. Nach einem schweren Autounfall findet sich Professor Börne  im Limbus wieder, in der Vorhölle zwischen Leben und Tod – während er zugleich im Krankenhaus im Sterben liegt. „Wir sind froh über jede Stunde, die wir ihn noch am Leben erhalten können“, sagt die Ärztin seinen Münsterer Kolleginnen und Kollegen. Noch am Vorabend hatten sie in einer Kneipe vom Professor Abschied genommen, weil der sich eine Zeitlang beurlauben ließ, um ein Buch über den Tod zu schreiben. 

So viel können wir hier von diesen surrealen Ereignissen bereits verraten, weil die makabre Mischung – von Tatort-Krimi und Börne als Wiedergänger im Zwischenreich – nach fünf Minuten des TV-Films klar sind.

Kommissar Thiel glaubt nicht an Börnes schweren Unfall mit 180 km/h auf der nächtlichen Landstraße: „Das ist nicht seine Art! Außerdem war er stocknüchtern, als er die Kneipe verließ.“ Während der Kommissar gegen den Willen der Staatsanwältin Klemm klassisch ermittelt, versucht der Professor verzweifelt als Untoter die Ermittlungen zu beeinflussen und seine Assistentin Frau Haller („Alberich“) zu kontaktieren. Jedoch zwischen der realen Welt und dem Limbus ist keine Kommunikation möglich, allenfalls kann Alberich ihren Ex-Chef vage spüren, wenn der seine Hand auf ihre Schulter legt. Erst als sie kurzzeitig selbst dem Tod nahe ist, kann der Wiedergänger mit ihr Kontakt aufnehmen und sie warnen.

In der Zwischenwelt trifft der Untote auch auf die Ermittlerin Nadeshda aus Münster, die vor einiger Zeit im Tatort „Das Team“ ermordet wurde. Sie befindet sich ebenfalls noch im Limbus, hat sich dort aber verlaufen. „Der sieht ja aus wie Thiel“, sagt sie über den Geschäftsführer (den man früher Teufel nannte), der Börnes nahenden Tod bearbeitet und ebenfalls von Axel Prahl gespielt wird.

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Zum Film „Pelikanblut“

Nach einem alten Mythos hacken sich Pelikanweibchen die Brust auf, um mit dem Blut ihre toten Jungen ins Leben zurückzuholen. Diese frühchristliche Metapher des Filmtitels scheint auch das Handeln der alleinerziehenden Pflegemutter Wiebke (Nina Hoss) zu bestimmen.

Als sich ihr zweites neues Adoptivkind Raya (Katerina Lipovska) als garstiges Monster und „emotional totes Kind“ (so Regisseurin Katrin Gebbe) entpuppt, wird sie – im übertragenen Sinn – zum Pelikanweibchen. Sie schleppt die Fünfjährige den ganzen Tag lang im Wickeltuch herum, besorgt sich illegale, Muttermilch fördernde Medikamente, um das Kind zu säugen. So will sie an frühe Entwicklungsphasen anknüpfen, als Raya noch beziehungsfähig war. Denn das bulgarische Waisenkind ist schwer traumatisiert…

Aber erzählen wir die Geschichte der Reihe nach:
Wiebke ist eine leicht amerikanisch angehauchte Pferdezüchterin, die für eine Reiterstaffel der Polizei junge Pferde dressiert. Mit ihrer neunjährigen Adoptivtochter Nicolina versteht sie sich großartig, bis das neue Adoptivkind ins Haus kommt. Für kurze Zeit passt Raya sich an und Nicolina freut sich über ihre Schwester. Doch nach und nach wird Raya nicht nur ihrer großen Schwester immer unheimlicher: Sie bunkert Essen, schmiert mit Kot, legt Feuer, quält oder sexualisiert andere Kinder bis die Eltern sie aus der Kita rausschmeißen: „Die ist krank! Die muss weg!“

Das stellt letztlich auch ein Kinderpsychologe fest. Wiebke muss erkennen, dass Liebe und konsequentes Handeln alleine keine Heilung bringen. Doch sie merkt auch, dass gestörte Kinder nicht wie Pferde dressiert werden können. Jedoch als sie das Kind in eine Spezialklinik bringen will, rennt es weg und schreit plötzlich „Mama!“

Wiebke bildet parallel zu dieser Geschichte Polizeipferde aus und zähmt für eine Polizistin (und mit ihr) einen wilden Hengst. Auf einer richtigen Demo dreht das Tier durch, verletzt Demonstranten, wirft seine Reiterin ab und wird erschossen. Das kann man mit dem wilden Kind nicht machen – doch als mit Raya gar nichts mehr geht, schlägt der sozialpädagogisch anmutende Psychothriller in ein anderes Genre um: Weiterlesen

Känguru-Chroniken kein Blödelfilm

Ein lebensgroßes Känguru namens Känguru klingelt einige Male an Marc-Uwes Wohnungstür, um alle Zutaten zum Backen eines Pfannkuchens auszuleihen und zieht schließlich ungefragt bei ihm ein. So wie der Kult gewordene Episodenroman „Die Känguru-Chroniken“, beginnt auch der Film, der am 5. März in den Kinos anläuft.

Die millionenfach verkauften Chroniken sind keine Blödelsammlung, sondern politisch-surreale Begebenheiten und Weltbetrachtungen, die vom Regisseur Dani Levy („Alles auf Zucker“) großartig cineastisch umgesetzt werden. Allerdings macht er aus dem Allerlei von Figuren, Orten und Ereignissen eine durchgehend groteske Geschichte. Allem Anschein nach spielt sie in der Wendezeit in Berlin-Kreuzberg. Aber bitte kein Gejammer – das Drehbuch entwickelte der  Regisseur gemeinsam mit dem Autor der Chroniken Marc-Uwe Kling.

Das noch von Eingeborenen bewohnte, aber auch multikulturelle und hausbesetzte Kreuzberg, wird vom rechtspopulistischen Immobilienhai Dwigs (Henry Hübchen mit Föhnfrisur) und seiner skrupellosen Frau Jeanette (Bettina Lamprecht mit reichlich Schwangerbauch) plattgemacht. Beide finanzieren eine Nazi-Partei, deren Prügelbande die letzten Bewohner eines Altbaus, darunter Marc-Uwe (Dimitrij Schaad) und sein Beuteltier, drangsalieren. Dabei wird schon mal ein typisch Berliner Nacht-Einkaufsladen („Späti“) verwüstet oder aus Versehen Dwigs Porsche zu Schrott gehauen.

Das soziale Leben der Bewohner spielt sich meist in der Kneipe von Herta (Carmen-Maja Antoni) und einem türkischen „Späti“ ab. Wie selbstverständlich bewegt sich, ungezügelt und intellektuell zugleich, das Känguru zwischen ihnen. Mal spielt es das Haustier, mal einen findigen Rechtsanwalt, manchmal gibt es seinem Mitbewohner sogar Tipps, wie der die alleinerziehende Mari (Rosalie Thomass) becircen könnte. Nebenbei: Seine Eltern schenkten dem schüchternen Marc-Uwe zehn Psychoanalyse-Stunden, die er bei einem schrägen Wiener Psychiater absitzt. Aus machtgeiler Bosheit will Dwigs eines der letzten alten Häuser abreißen und darauf einen riesigen Turm bauen. Ohne allzu viel zu verraten kann man sagen, dass ihm das nicht gelingen wird, weil Mari fantastische digitale Kenntnisse besitzt.

Die filmische Umsetzung der Chroniken ist kein linksradikaler Politklamauk und schon gar keine, Burleske zum schenkelklopfenden Ablachen. Es ist eine liebevolle aber reichlich übertriebene Erzählung von denen da oben und den Menschen dort unten. Weiterlesen

Kann Mia die Welt retten? Über den Film „Electric Girl“

Die aufgedrehte dreiundzwanzigjährige Studentin, Barfrau und Poetry Slammerin, will die Welt retten. Doch anders als wir früher oder Fridays for Future heute, will Mia (Victoria Schult) das ganz alleine machen: „Denn nur ich kann die feindlichen Mächte sehen!“, verkündet sie.

Theatralisch und hektisch düst sie durch den Alltag, scheint selten zu schlafen und versucht vergeblich Verbündete zu gewinnen. Doch nur ihr älterer, etwas verwahrloster Nachbar Kristof (Hans-Jochen Wagner) spielt eine Zeitlang mit.

Zufällig bekam Mia die Rolle als deutsche Synchronsprecherin in einem japanischen Animationsfilm, in dem Superheldin Kimiko alleine die Welt befreit. Während der Arbeit am Film identifiziert sie sich mehr und mehr mit der Heroine. Anfangs verschwimmen die Kinobilder zwischen den verschiedenen Welten, bis Mia schließlich selbst erlebt, wie sich auch in Hamburg die bösen Mächte mithilfe des elektrischen Stroms zu schaffen machen. Wie bekifft oder auf einem LSD-Trip versucht sie Freundinnen für ihren Abwehrkampf zu gewinnen: „Ich weiß, was ihr nicht wisst!“. Doch vergeblich, ihr Umfeld zweifelt eher an Mias seelischer und geistiger Gesundheit.

Mittlerweise sieht sie mit ihrer lila Perücke und dem gelben Mantel aus wie Kimiko. In diesem Aufzug taucht sie auch bei ihrer Familie auf, um den schwer kranken Vater zu besuchen und provoziert einen lebensgefährlichen Skandal. Einige Ereignisse scheinen aber ihrem möglichen Wahn zu widersprechen und überraschen auch uns Zuschauer: Mia hält wirklich einen Bus mit einer Kung-Fu-Bewegung an, springt von einem Hausdach und rettet einen Mann, der ohnmächtig vor die Hamburger U-Bahn zu gleiten droht.

Regisseurin Ziska Riemann (nein, nicht die Tochter von Katja Riemann) unterlegt häufig die Handlung mit bizarren Geräuschen und bedrohlicher Neuer Musik. Das schafft eine düstere Unterströmung, die sowohl die reale Bedrohung der Menschheit als auch den manischen Wahn Mias suggeriert. Der Film changiert zwischen diesen beiden Polen und der Schluss, der hier ausnahmsweise mal in einer Rezension angedeutet wird, bleibt offen. Ein wenig so wie in Andrei Tarkowskis „Opfer“: Am Ende des Films weiß man ja ebenfalls nicht, war der Protagonist verrückt oder hat er mit seiner Hingabe wirklich eine Katastrophe verhindert? Weiterlesen

„Der andere Liebhaber“

Im Psychothriller „Der andere Liebhaber“ fühlt sich eine junge Frau zwischen einem sanften Frauenversteher und einem zynischen Unhold hin- und hergerissen.

Seit Chloé denken kann, hat sie Bauchschmerzen ohne organische Ursachen, doch eines Tages beginnt sie endlich eine Psychotherapie. Beim ersten Treffen erzählt sie dem sensiblen Therapeuten Paul, sie fühle sich fürchterlich leer, weil ihr irgendetwas fehle. Bereits nach wenigen Sitzungen scheint Chloé (Marina Vacth) geheilt, weil Paul (Jérémie Renier) sie so gut versteht. Beide verlieben sich ineinander, brechen die therapeutische Beziehung ab und ziehen zusammen. Doch die heilsame Idylle wird bald von Misstrauen und Eifersucht zersetzt.

Chloé meint, ihren Geliebten in der Stadt gesehen zu haben, der bestreitet jedoch, dort gewesen zu sein. Bei ihren Nachforschungen stößt sie auf Louis (ebenfalls Jérémie Renier), den von Paul verleugneten Zwillingsbruder, der auch Therapeut ist. Um die mysteriöse Familiengeschichte zu enträtseln, geht sie zu ihm in Behandlung. Der aggressive Chauvinist Louis ist völlig anders als sein sanfter Bruder, dennoch fühlt sich Chloé heftig erotisch von ihm angezogen. Als er sie in der dritten Sitzung anherrscht, „zieh dich aus!“, gibt sie sich ihm hin – und besucht ihn danach immer wieder.

Nun beginnt, zunächst noch unmerklich für alle Beteiligten der Ménage-à-trois, ein Albtraum, in dem die sowieso recht brüchige Realität und der mögliche Wahnsinn langsam verschmelzen. Auch wir Zuschauer werden in diesen Nachtmahr hineingezogen, in ständiger Spannung gehalten und von immer neuen Wendungen verblüfft: Welche dunklen Abgründe offenbart Paul? Ist Chloé eigentlich verrückt? Wird sie einen der Zwillinge umbringen? Aber welcher Zwilling ist wer?

Bereits der Beginn dieser Geschichte wird mit eindringlichen Nahaufnahmen und seltsamen Spiegelungen in unwirklichen düsteren Bildern erzählt… Weiterlesen

„Die Spur“ – der Berlinale-Film endlich im Kino

Fast ein Jahr nach seiner Uraufführung auf der Berlinale kommt der eigenwillige polnische Film „Die Spur“ nur in einige Kinos, obwohl er einen silbernen Bären gewann und auch für einen Oscar nominiert wurde.

„Du hast den Krieg nicht angefangen“, wird die ältere Janina Duszejko (Agnieszka Mandat ) von einem ihrer wenigen Freunde getröstet. Die unangepasste und von den Dorfbewohnern verachtete Frau, die viel in der Welt herumgekommen ist, lebt abseits des kleinen Dorfes, nahe der polnisch-tschechischen Grenze. Mit ihrer anarchistischen aber barmherzigen Lebenshaltung passt die Vegetarierin nicht in die scheinbar heile Dorfgemeinschaft. Im Ort herrschen willkürlich die, in einer Jäger-Clique zusammengeschlossenen Honoratioren. Sie quälen Tiere, halten sich an keine Jagdregeln und behaupten mit Korruption und Erpressung ihre Macht. Unter der gediegenen Oberfläche gedeihen Glücksspiele und Prostitution.

Als Duszejko ihre geliebten Hunde begraben will, die wahrscheinlich von den Jägern ermordet wurden, schnauzt der Pfarrer sie an: „Tiere wie Menschen zu behandeln ist Blasphemie!“ Obwohl „Tiere keine Seele“ haben, wie der Priester jägerfreundlich von der Kanzel verkündet, schlagen sie eines Tages zurück: Nach und nach werden der Polizeipräsident, der Chef einer Fuchsfarm, der Bürgermeister und andere Jäger offenbar von Tieren getötet. Die Spuren an den Leichen verweisen darauf, dass sie von Käfer zerfressen oder von Rehen und anderen Tiere zerbissen wurden. Für Duszejko ist klar, dass sich die misshandelten Kreaturen an ihren Peinigern rächen, jedoch die meisten Dorfbewohner halten sie für verrückt.

Mit düsteren, gelegentlich auch sonnigen Bildern – wie inspiriert von der romantischen deutschen Malerei – erzählt die bekannte Filmemacherin Agnieszka ihre spannende Geschichte. Der gelegentlich sogar humorvolle Streifen lässt sich keinem Genre zuordnen und nimmt überraschende Wendungen. Bis zum märchenhaften Schluss ist „Die Spur“ mal Heimatfilm mal Krimi, aber auch Fantasyfilm oder Ökothriller. Die Regisseurin will sich bewusst nicht festlegen (lassen), dennoch verliert sich der Streifen nicht in Beliebigkeit, ist kein wahlloser Genre-Mix. Den Alfred-Bauer-Preis als Berlinale-Bär erhielt sie zu recht für „einen Spielfilm, der neue Perspektiven der Filmkunst eröffnet“, so die Jury. Weiterlesen

Neues deutsches fantastisches Kino?

Zwischen Rotkäppchen und Froschkönig:  „Der Nachtmahr“ und „Wild“

Vor einiger Zeit kam der Film „Wild“ der Berliner Regisseurin Nicolette Krebitz in die Kinos, nun folgt „Der Nachtmahr“, ein ähnlich surrealer Streifen des Berliner Filmemachers Akiz. Sind die Filme „Neues Deutsches Fantastisches Kino“ aus der Hauptstadt?

In „Der Nachtmahr“ begegnet ein Teenager kurz vor ihrem 18. Geburtstag einem seltsamen Wesen. Zunächst hat eine Smartphone-App ihr Selfie in ein blindes Ungeheuer – eine Mischung zwischen ET und Embryo – verwandelt. Dann begegnet Antonia dieser Kreatur wirklich, also letztlich sich selbst oder vielleicht nur im Wahn? Die Eltern schicken das verängstigte Mädchen zu einem Psychiater, der sie zur Kommunikation mit dem Geschöpf ermuntert. Widerstrebend nimmt sie Kontakt auf, versorgt es mit Essen und lässt es – wie den Froschkönig – in ihrem Bett schlafen. Eltern und Freundinnen halten das Mädchen für wahnsinnig, doch irgendwann sehen auch sie dieses Tier und rufen panisch die Polizei. Nehmen die Außenstehenden wirklich ein Monster wahr oder ist das nur ein weiteres Hirngespinst Antonias? Am Ende des Films sitzt das Wesen am Steuer eines geklauten Autos und rast mit Antonia durch die Nacht. Ihre Erlebnisse sind weder eine Horrorgeschichte noch ein sanftes Märchen, aber am Ende bleibt offen, ist das nun Realität, Fantasie oder Wahn?

Ähnlich verwirrt verließ man bereits den Film „Wild“, denn der Titel meint ein wirklich wild gewordenes Rotkäppchen. Durch eindringliche Bilder und suggestive Klänge lässt er uns Zuschauer an der Obsession einer, mit ihrem Leben unzufriedenen jungen Frau teilnehmen. Roh und triebhaft verfällt die schüchterne Anias einem echten Wolf. Zunächst fängt sie das wilde Tier und hält es in ihrer Wohnung, die in wenigen Tagen verwüstet wird und – man glaubt es im Kino zu riechen – bestialisch stinkt. Das ungleiche Paar liebt einander und schließlich entfernt Anias sich aus der menschlichen Zivilisation: In einer bizarren Landschaft schlabbert sie mit dem Wolf Wasser aus einer Pfütze und frisst roh die von ihm gefangene Maus. Und wieder die Frage, ist das nun Wirklichkeit, Einbildung oder Irrsinn? Weiterlesen