Beinahe ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung, präsentiert ein afrikanisches Tanzensemble die Wiedereinstudierung des “Frühlingsopfers“ von Pina Bausch in Wuppertal. Der Film, der die Erarbeitung des Stückes dokumentiert, erschien jetzt auf DVD.
Aggressive schwarze Tänzer stampfen rhythmisch durch Torf auf dem Bühnenboden. Verzweifelt klammern sich dunkelhäutige Tänzerinnen in weißen Kleidern aneinander, manche winden sich in der Moorerde. Eine der Frauen wird das Opfer und muss sich im roten Kleid zu Tode tanzen… Diese Performance ist kein Als-ob-Theater, die Beteiligten agieren real bis zur völligen Erschöpfung.
Vom Publikum wurde die, bis ins Detail rekonstruierte Choreografie durch die ad hoc gebildete afrikanische Compagnie, frenetisch gefeiert. Bauschs Interpretation der Ballettmusik Igor Strawinskys – in der Tradition des deutschen Ausdruckstanzes – begründete einst den internationalen Ruhm als Pionierin des Tanztheaters und ist bis heute ihr am meisten gespieltes Stück.
Dieses Event ist die erste und exemplarische Kooperation des Wuppertaler Tanztheaters mit der Pina-Bausch-Stiftung ihres Sohnes. 14 Jahre nach dem Tod der Choreografin sind die grotesken Streitereien um ihre Nachfolge überwunden. Der Ausbau des alten Stadttheaters zum Pina-Bausch-Zentrum ist planerisch vollendet, die öffentliche Finanzierung gesichert. Nach einigen Irrwegen sind die Ziele festgelegt: Ihr Werk soll gepflegt, aber ebenfalls neue Wege des Ensembles ermöglicht werden, unter anderem durch die Kooperationen mit Kunstschaffenden aus anderen Bereichen. Die Partizipation des Publikums ist angestrebt, derzeit werden 200 Laien für ein tänzerisches Straßenprojekt gesucht.
„Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der Flamme.“ Das gilt für das weiterhin gezeigte choreografische Werk der Choreografin. Dessen Themen – was tun Menschen um geliebt zu werden oder der Widerspruch von Nähe und Distanz in der Liebe – sind ja weiterhin hochaktuell. Stets sind die Wuppertaler Vorstellungen ausverkauft und begeistern auch junge Leute. Alljährlich geht die Compagnie auf Welttourneen mit den rekonstruierten Stücken.
Im Film „Dancing Pina“ (2022) wurde die von der Pina-Bausch-Stiftung in Afrika beauftragte Neueinstudierung dokumentiert. Ehemalige Ensemblemitglieder ermöglichten durch ihre Mitarbeit die präzise „Rollenweitergabe“: Die Gecasteten aus 14 afrikanischen Ländern kommen vom Street Dance. Eine Tänzerin war traurig, weil sie sich „so“ gar nicht bewegen könnte. „Sei nur du selbst“, ermunterte sie die künstlerische Leiterin. Beim Ansehen des Videos merkte die Zweifelnde: „Alle Frauen tanzen gleich, aber jede wirkt anders.“ Den Körpern der Tanzenden sind ihre biografischen und kulturellen Erfahrungen eingeschrieben, darum wirken im zeitgenössischen Tanz gleiche Bewegungen stets – ganz bewusst – individuell. Das macht die Tänze der afrikanischen Menschen im „Frühlingsopfer“ so außergewöhnlich interessant und besonders eindringlich.

Fotos:
Aufführung „Frühlingsopfer“ im Wuppertaler Tanztheater © Pina Bausch Foundation / Martin Vanden Abeele
Service:
DVD, Blue-ray und VOD-Veröffentlichung ab sofort bei mindjazz pictures
Der soeben veröffentlichte Film „Dancing Pina“ dokumentiert nicht nur die Arbeit der afrikanischen Gruppe am „Frühlingsopfer“. Sondern er zeigt auch die Wiedereinstudierung der „Iphigenie auf Tauris“, einer frühen Bausch-Arbeit, durch das klassische Ballett der Semperoper in Dresden. Der Film macht deutlich, ihre Choreografien können sowohl von Menschen aus fremden Kulturkreisen als auch vom traditionellen Ballett getanzt – und trotz ihrer Werktreue aufgeBAUSCHt werden.