Berlinale 2022

Gestern Abend begannen die Filmfestspiele in Berlin mit „Peter von Kant“, einer kühnen Interpretation des Fassbinder-Streifens „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ durch den Regisseur François Ozon. Der rote Teppich ist vor dem Berlinale-Palast ausgerollt und die Hauptstadt hängt voller stilisierter Bärenplakate: Die 72. Berlinale findet tatsächlich statt, wenn auch mit strengen Hygienekonzepten, 50% weniger Plätzen und einem etwas eingeschränkten Programm. Dennoch überschlugen sich hämische Kommentare in manchen Medien und Netzwerken, die Filmbranche wolle doch nur sich selber ohne Rücksicht auf Verluste feiern – aber das Gegenteil ist der Fall! Manche filmwirtschaftliche und andere Industrial Events finden eher online statt, das größte Publikumsfestival der Welt wollte jedoch die Kinofans nicht enttäuschen und zeigt 256 Filme dem öffentlichen Publikum.

Der Wettbewerb wurde um einige Tage gekürzt, die Bärenverleihung findet bereits am Mittwoch statt, dafür muss man als Journalist einige Male vier Streifen am Tag ansehen. Doch für das Publikum werden dadurch mehr Aufführungen wiederholt. Während bei den beiden anderen großen Filmfestivals in Venedig und Cannes die Stars, Cineasten und Prominenten meist unter sich bleiben, kamen in Berlin in den letzten Jahren jeweils weit über 300.000 normale Besucher und Besucherinnen in die Festival-Lichtspielhäuser. Mit dem Anspruch „Berlinale Goes on Kiez“ werden, wie in den letzten Jahren, kleinere Programmkinos in den Stadtteilen Aufführungen wiederholen. 

Das Publikum kann nun alle Filmschaffenden in diesem Jahr wieder auf dem roten Teppich, im Festspielpalast und anderen Orten live erleben. Nach der vorletzten Berlinale 2020 begann wenige Tage später der erste deutsche Lockdown mit seinen einschneidenden Konsequenzen für alle Kulturbereiche. Im letzten Jahr war das Festival zweigeteilt, wir Journalisten durften im Frühjahr sämtliche Beiträge aller Sektionen im heimischen Fernsehen oder auf dem Computer gucken, im Sommer konnte man die populärsten Streifen in Berliner Open-Air-Kinos sehen. Dort gab es dann eher fröhliche Biergartenstimmung als intensive Kinoerlebnisse.

Wie immer wird viel über den Wettbewerb mit seinen 18 Werke diskutiert: Ist es ausreichend, dass „nur“ sieben Filmemacherinnen dabei sind? Warum gibt es lediglich zwei deutsche Beiträge und nur einen aus Hollywood? Nun ja, der Anteil von weiblichen Filmschaffenden auf dem Festival war schon immer beträchtlich höher als bei vergleichbaren Events. Die Berlinale ist kein Heimatfest, es gab bisher auch viele Festspiele ohne teutonische Streifen im Wettbewerb.

Natürlich wird es auch Glamour geben, obwohl das nicht der primäre Anspruch der Berlinale ist: Isabelle Huppert kommt und erhält den Ehren-Bär für ihr Lebenswerk, bekannte Regisseure wie Paolo Taviani oder Ursula Meier stellen ihre Beiträge vor und bringen die Akteure und Teams mit, etwa Isabelle Adjani, Charlotte Gainsbourg oder Charly Hübner 

Statt Blockbuster aus Hollywood werden seit vielen Jahren asiatische, afrikanische und südamerikanische Werke gezeigt. Übrigens nicht nur im Wettbewerb, sondern in allen Sektionen, etwa bei den Kinder- und Jugendfilmen in „Generation“ oder im avantgardistischen „Forum“. Seit langem erhalten sämtliche Minderheiten, politisch unterdrückte und verfolgte Menschen aus aller Welt hier ein Forum – als „Diversität“ noch kein modischer Trend war.

Vorgestern begannen übrigens die Onlinebuchungen für die Presse und das System hat nach tagelangen Problemen tatsächlich hervorragend funktioniert: Bereits zweimal um 7:30 Uhr konnte der Verfasser dieser Zeilen tatsächlich alle gewünschten Tickets für die nächsten Tage buchen. Die  Plätze sind vorgegeben, zu 2G+ ist noch ein täglicher Test nötig: Weil die Presse-Leute ja so viele Kontakte haben und jeden Tag mehrere Vorstellungen sehen.

Zum Schluss ein Zitat des Berlinaleleiters Carlo Chatrian: 

Es gehe darum, „als Beschützer eines Raums in Erscheinung zu treten, der zu verschwinden droht. Einen Film in einem Kinosaal anzuschauen, das Atmen, Lachen und Geflüster der anderen zu hören (…), trägt nicht nur entscheidend zum Sehvergnügen bei, es stärkt auch die gesellschaftliche Funktion, die das Kino hat. Wenn Filme den Anspruch und den Ehrgeiz haben, von Menschen in ihrer Lebenswelt zu erzählen, müssen sie sich an eine Gemeinschaft richten, an ein Publikum…“