Teil 2 „Mitten in Deutschland“

Im Gespräch mit Semiya Simsek (in Schlüchtern bei Fulda) über die Verfilmung ihres Buchs „Schmerzliche Heimat“ für die ARD-Spielfilm-Trilogie

Enver Şimşek aus Schlüchtern wurde im Herbst 2000 das erste Mordopfer der terroristischen Vereinigung „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). Seine Tochter Semiya, deren Familie jahrelang von der Polizei wegen seines Todes mit Verdächtigungen und Lügen überzogen wurde, wurde mit ihrer Rede bei der zentralen Gedenkfeier für die Opfer Anfang 2012 im Konzerthaus Berlin und ihrem Buch zur Stimme der Opferfamilien. Ihre Geschichte wurde von der ARD für den Dreiteiler „Mitten in Deutschland“ verfilmt und ist an diesem Montag zu sehen.

Semiya war gerade für einige Tage in Deutschland, zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Sohn auch in Schlüchtern. Zum Gespräch mit unserer Zeitung kam sie ins Café Fabrice. Die 31-jährige lebt seit drei Jahren in der Türkei, nachdem sie dort ihren Mann kennenlernte und später ihren Sohn zur Welt brachte. Nach dem Studium der Sozialpädagogik in Fulda und einer sozialen Tätigkeit in Frankfurt lebt sie nun in Şarkikaraağaç, gut 200 Kilometer nördlich von Antalya, wo sie in einem Sozialamt arbeitet.

hwk       Was ist das für ein Gefühl hier zu sein?

Ich bin in Schlüchtern zu Hause und komme immer sehr gerne hierher. Schlüchtern bleibt meine Heimat, ich habe viele Freundinnen hier und meine Familie lebt ja in Friedberg. Eigentlich bin ich eine Pendlerin, denn ich komme oft nach Deutschland. 2012 bin ich in die Türkei gegangen, habe dort mein Buch geschrieben – und bin geblieben. Seitdem bin ich aber oft zum NSU-Prozess und zu den Dreharbeiten für die Verfilmung meines Buches hergekommen.

hwk       Bist Du jetzt Türkin?

Ich bin eine Deutsch-Türkin……doch die Türkei ist mittlerweile meine zweite Heimat geworden. Manchmal glauben die Leute das gar nicht, weil ich Türkisch mit Akzent spreche. Anfangs war es sehr schwierig, ich kannte niemanden, hatte keine vertrauten Personen. Aber jetzt fühle ich mich dort wohl, mein Sohn wird drei Jahre alt, wir haben gebaut…Ich bin glücklich und fühle mich integriert.

hwk       Hattest Du anfangs einen Kulturschock?

Nein, überhaupt nicht… Wir Deutsch-Türken holen uns doch sowieso aus beiden Kulturen was uns passt. Es ist wirklich nicht schlimm in zwei Kulturen zu leben – und vor allem, in der Türkei sind die Menschen oft viel lockerer als die Migranten hier, die hängen da gar nicht so streng an den Traditionen.

hwk       Wie geht es Dir mit dem NSU-Prozess?

Der Prozess zieht sich ja schon ewig hin, ich bin sehr unzufrieden. Ich habe kaum Antworten auf die Fragen bekommen, die ich vor drei Jahren im Gespräch mit Ihnen geäußert habe. Ich habe keine Hassgefühle auf die Schäpe – aber mich ärgert, dass sie so viel Aufmerksamkeit bekommt, ja sie scheint den Prozess zu lenken. Wir müssen uns alle nach ihr richten, ich bin auch schon völlig umsonst aus der Türkei angereist, weil sie Termine platzen ließ.

hwk       Hat der Schmerz nach dem Verlust Deines Vaters nachgelassen?

Der Schmerz ist nicht kleiner geworden, ich finde es gerade jetzt so traurig, dass mein Sohn seinen zweiten Opa nicht kennenlernen kann. Er versteht einfach nicht, dass der „tot“ ist: „Der soll doch mal aufstehen“, sagt er immer, wenn wir am Grab sind.

Aber trotz alledem, Deutschland ist meine Heimat!

hwk       Hat es Dich gefreut, dass die „Schmerzliche Heimat“ verfilmt wurde?

Insgeheim hatte ich das immer gehofft. Durch einen Film, der ja auch im Fernsehen läuft, kann man noch mehr Leuten zeigen, was hier Schlimmes passiert ist und wie unsere Familie, die Familien aller Ermordeten, behandelt wurden. Wir durften ja nicht Opfer sein und trauern, manchmal haben wir sogar gezweifelt, ob an den Verdächtigungen der Polizei nicht doch etwas dran ist.

hwk        Bis Du von der ARD in die Filmarbeiten eingebunden worden?

Ja sehr stark! Das fing mit der Drehbuchautorin Laila Stieler an, die hat mich in der Türkei einige Tage lang besucht und mein Leben kennengelernt. Laila kannte natürlich mein Buch, also meine Geschichte sehr gut, sie hat aber trotzdem noch sehr viel mit mir gesprochen. Wir haben dann oft miteinander telefoniert und sind Freundinnen geworden. Züli Aladag, der deutsch-türkische Regisseur, hat sich intensiv in mich und die Situation meiner Familie eingefühlt. Er war mächtig mit dem Drehbuch identifiziert und wollte den Film unbedingt machen. Wir haben eigentlich gemeinsam fast jedes Detail besprochen.

hwk       Es wurde auch bei Euch in der Türkei gedreht?

Ja, dadurch wird der Film sehr echt, finde ich, denn meine Erfahrungen im Buch waren ja auch authentisch. Es wurde in unserem Haus gedreht und die Komparsen bei der Beerdigung oder in anderen Situationen kamen aus unserem Dorf.

Zum Beispiel gab es den Wechsel der Kommissare tatsächlich, sie hatten natürlich andere Namen. Der neue Kommissar Bronner, den Tom Schilling spielt, der war wirklich fix und fertig, als sich seine Vermutung bestätigte, dass die Mörder Rechtsradikale waren.

hwk       Wie war das, sich selbst als eine andere auf der Leinwand zu erleben?

Die Schauspielerin Almila Bagriacik war sehr sensibel, sie hat ebenfalls viel mit mir geredet, sich in mich eingefühlt und war stark mit ihrer Rolle identifiziert. Manchmal musste sie nach den Dreharbeiten weinen… Also, wir alle haben den Rohschnitt zusammen gesehen, ich war völlig fix und fertig und habe viel geweint. Aber ich bin mit dem Film sehr zufrieden, noch besser kann ich ihn mir überhaupt nicht vorstellen.

 

 

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