„Nicht ich“ ist der Titel des aktuellen Buches der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev, das sie kürzlich im legendären Berliner Ensemble vorstellte. Demnächst wird sie auch im Frankfurter Theater auftreten, begleitet von Schauspielerin und Regisseurin Maria Schrader, die Auszüge daraus vorlesen wird., sowie Moderatorin Shelly Kupferberg. Allerdings handelt es sich bei der Veröffentlichung nicht um ein neues Werk. Die ehemalige Lyrikerin verfasste diesen, ihren ersten Prosatext, bereits vor dreißig Jahren, der erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurde.“
Eine Frau nimmt sich einen Geliebten, verlässt ihren Mann und die gemeinsame Tochter. Sie zerstört ihre Familie, obwohl sie immer noch Fantasien einer heilen Welt in sich trägt: „Ich möchte nachts zusammen mit euch im Bett schlafen und zu euch ins Klo kommen…“ Die Autorin erzählt diese Geschichte eines „unerklärlichen Wahns“ nicht gradlinig, sondern spinnt mit krassen Zeitsprüngen ein literarisches Netz aus Erinnerungen und Fantasien.
Die Schilderungen sind assoziativ miteinander verknüpft, wiederholen oder widersprechen sich, folgen keiner erkennbaren Logik. Sie sind vergleichbar mit nächtlichen Träumen, in denen vieles drunter und drüber geht oder Unmögliches zusammenkommt: Mit ihrem Mann besucht sie, gleich zum Beginn der Story, einen steinalten Heiler. Er verpflanzt ihre Gebärmutter in den Gatten, der später die gemeinsame Tochter zur Welt bringt. Babys soll man nicht anfassen, denn an ihnen kann man sich verbrennen, weiß sie. Trotz ihrer eigenartigen Liebhaber ist sie weiterhin mit dem Gemahl „durch Nägel und Drähte verbunden“. Häufig verschmilzt sie selbst als zwölfeinhalbjährigen Mädchen mit der groß gewordenen Tochter. Auf offener Straße wird sie weiß gekalkt und ist nun „festlich wie eine Wand“…
Shalevs Sprache ist meist eigenartig und verrätselt, man spürt deutlich die Lyrikerin:
„Der Körper des Geliebten ist mit Kies gefüllt, und wenn er geht, hört man den Kies knirschen.“ Oder „das Mädchen ist mit Honig und Milch gefüllt und von süßer Asche überzogen.“
Insgesamt schafft sie in ihrem Pandämonium der Trennung eine groteske Atmosphäre wie einst das Absurde Theater. Das muss man mögen – und ebenso die Unbestimmtheit des Textes aushalten.
In den fantastischen Sprachbilder kann man die Gefühle der Protagonistin spüren: Sehnsucht, Zweifel, Wut, Hilflosigkeit, Misstrauen, Trennungsangst…

Den Titel des Buches könnte man lesen als: ich bin „Nicht ich“, also als die rauschhafte Erzählung einer zerrissenen, in sich gespaltenen Frau. Als die Dichterin einst begann, diese Zeilen ziemlich schnell herunterzuschreiben, war sie selbst entsetzt, „was diese junge Frau aus mir herausschrie“, es waren „nicht nur beschriebene, sondern brennende Seiten.“ Shalev (Bild links) war in dieser Zeit durch ihre Heirat und die Geburt der Tochter in einer neuen Lebenssituation, die sie zu diesem Text inspirierte.
Aber auch literarisch war sie „Nicht ich“, sondern eher im Transit als Lyrikerin zur Romancière. Da die Protagonistin fast durchweg zornig und aggressiv agiert, wurde ihr erster Roman von der israelischen Kritik niedergemacht. Mutterschaft spielte zu der Zeit in Israel eine bedeutende Rolle und durfte nicht infrage gestellt werden. Verschreckt schrieb sie zwei Jahre lang gar nichts mehr, auch keine Gedichte. Dann begann sie ihren Roman „Liebesleben“, der gerade in Deutschland, aber auch international mit 22 Übersetzungen aus dem Hebräischen, ein großer Erfolg wurde. Im Laufe der Jahre entstand dann mit den zwei weiteren Werken, „Mann und Frau“ und „Späte Familie“, eine Trilogie von Liebesdramen, die sie gleichsam in „Nicht ich“ vorwegnahm.
Immer wieder versuchte Shalev im Berliner Ensemble zu erklären wie sie arbeitet, denn auch ihre späteren Romanen schrieb sie sehr spontan: „Die Worte kommen wir Vögel“, meinte sie, „meine Bilder entstehen beim Schreiben. Ich denke mir die Bilder nicht aus, sie kommen direkt in meine schreibenden Hände.“
„Liebesleben“ wurde in enger Zusammenarbeit mit Regisseurin mit Maria Schrader verfilmt, sie sprach auch das demnächst erscheinende Hörbuch „Nicht ich“ ein.
Zeruya Shalev „Nicht ich“, Berlin-Verlag 2024, Hardcover, 208 Seiten, 24 Euro
Fotos:
Piper Verlag / Porträt © Jonathan Bloom