Für ihr Geburtstagsfest öffnet Sandra Hüller – als Geschäftsfrau Ines Conradi im Film „Tonio Erdmann“ – splitternackt ihrem Chef die Tür. Spontan? Im Stress? Kalkuliert? Man weiß es nicht, aber diese Szene ist bis heute unvergessen, wenn man sich an den, 2016 auf den Festivals in Cannes gefeierten und für den Oscar nominierten Film erinnert. Das vielfach prämierte Opus hat mehr zu bieten als diese Szene oder seine damals ungewöhnliche dreistündige Länge. Hüller und Mitspieler Peter Simonischek wurden als großartige Darsteller in 55 Ländern (welche die Filmrechte erwarben) bekannt.
Trotzdem dauerte es, bis die deutsche Akteurin wirklich international erfolgreich wurde. Sie konnte sich nach der Anerkennung in Cannes nicht einfach aus familiären oder beruflichen Bindungen lösen und monatelang im Ausland drehen. Doch in diesem Jahr liefen drei exzellente Filme mit ihr auf europäischen Festivals: Während der Berlinale wurde das absonderliche deutsche Werk „Sisi und ich“ bejubelt, sie gab das „ich“, also die in Sisi verliebte ungarische Hofdame Irma. In Cannes verkörperte sie in beiden, von der Jury mit den Hauptpreisen – „Goldene Palme“ und „Großer Preis“ – ausgezeichneten Filmen dominierende Rollen. Beide Werke, die „Anatomie eines Falls“ und „The Zone of Interest“ trägt sie fast alleine als Darstellerin.
Die 1978 in Thüringen geborene Hüller spielte bereits als Schulmädchen leidenschaftlich gerne Theater und studierte nach dem Abitur Schauspielkunst. Ab 2000 bekam sie dann mehr als ein Jahrzehnt lang Theaterengagements in ganz Deutschland, wurde vielfach prämiert und durfte sich bald ihre Figuren aussuchen. Quasi als „Hobby“ machte sie in kleineren Rollen in deutschen Filmen mit, bis sie 2006 durch den Streifen „Requiem“ bekannt wurde. Danach changierte sie neben dem hauptberuflichen Theaterspiel zwischen Klamauk- und Art-Haus-Kino, von „Fack ja Göthe 3“ bis „Ich bin Dein Mensch“.
Nach „Toni Erdmann“ verweigerte sie die cineastische Festlegung auf extravagante Geschäftsfrauen und experimentierte mutig in diversen Genres, bis heute arbeitet sie weiterhin am Theater. Im französischen Psychodrama „Sibyl“ (2019) sprang sie, in der Rolle als Regisseurin, plötzlich ins Mittelmeer, weil sie das Gestreite ihrer Akteure nicht mehr aushielt.

Der französische Film „Anatomie eines Falls“, der am 2. November anläuft, wurde von Regisseurin Justine Triet ausdrücklich für sie geschrieben. Beim zweiten, britischen Streifen „The Zone of Interest“, der erst 2024 startet, hatte sie wenig Interesse, die Frau eines KZ-Kommandanten zu geben. „Aber irgendjemand musste es ja machen“, sagte sie, weil sie das Thema, Familienidylle im Schatten eines Vernichtungslagers, politisch sehr wichtig fand.
Der französische Film „Anatomie eines Falls“, der am 2. November anläuft, wurde von Regisseurin Justine Triet ausdrücklich für sie geschrieben. Beim zweiten, britischen Streifen „The Zone of Interest“, der erst 2024 startet, hatte sie wenig Interesse, die Frau eines KZ-Kommandanten zu geben. „Aber irgendjemand musste es ja machen“, sagte sie, weil sie das Thema, Familienidylle im Schatten eines Vernichtungslagers, politisch sehr wichtig fand.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie bescheiden und wenig glamourös Hüller sich in Interviews mit der Weltpresse oder dem TV gibt. Sie liebt es in ihren Rollen „alltäglich“ zu sein – kann diese „Alltäglichkeit“ aber hochdifferenziert darstellen.
„ANATOMIE EINES FALLS
Die enorme Bandbreite ihres Könnens zeigt Sandra Hüller in „Anatomie eines Falls“, in der sie verletzlich, durchtrieben, kämpferisch, traurig, mütterlich und feministisch eine Schriftstellerin gibt, die für den tödlichen Fenstersturz ihres Mannes verantwortlich sein soll. Was zunächst wie ein anspruchsvoller Tatort-oder Polizeiruf-Film (ja, die gibt es) beginnt und als Gerichtsfilm endet, wird zur Genese eines Beziehungsdramas – durch Zeugenaussagen und heimliche Mitschnitte des Sohnes von Streitereien der Eltern.
Ihr Mann, ebenfalls Autor, trug die Schuld am Unfall des Sohnes, der dadurch fast erblindete. Als Jammerlappen versank er in Schuldgefühlen, ließ sich hängen, konnte nicht mehr schreiben – und machte seine Frau dafür verantwortlich: Sie sei eiskalt, egoistisch und machthungrig. Auf abenteuerliche Weise soll das vor Gericht auch noch durch Auszüge aus ihren literarischen Werken bewiesen werden, sowie die extrem subjektiven Äußerungen ihres Mannes über sie bei seinem Psychiater. Doch eine überraschende Wendung des Falles geschieht durch die Aussage des zwölfjährigen Kindes…
Fotos
Oben: „Anatomie“ Die Leiche ihres Mannes im Schnee © Les Films Pelleas
IM Text: Aktuelles Porträt: © Plaion Picture, Foto Peter Hartwig