Ein erster Rundgang durch „Make Friends AND Art“ 

Eine faszinierende Vielfalt von Skulpturen, Gemälden, Installationen und anderen künstlerischen Gebilden erwartet die Besucher der Ausstellung „Make Friends AND Art“ – schließt Freundschaften UND macht Kunst: Zwei identische Köpfe betrachten sich in Spiegeln, einer ist weiß, der andere dunkelhäutig. Wenn man um das Objekt herumgeht, wird das weiße Antlitz dunkler oder das dunkle heller.

Von der Wand lachen zwölf Collagenporträts, die jeweils zugleich zwei extrem unterschiedliche Menschen – unter dem Motto „Gemeinsam“ – zeigen. Ein „interkulturelles Mustertuch“ präsentiert ein Patchwork aus Stofffeldern verschiedener außereuropäischer Regionen. 

Insgesamt 32 von der Station ausgewählte Kunstschaffende geben Antworten auf die umstrittene documenta fifteen des vergangenen Jahres. Die einst weltberühmte Kunstschau wurde nicht nur von antisemitischen Vorfällen, sowie dilettantischer und verantwortungsloser Kuratierung überschattet. Der Focus lag ohnehin nicht auf Kunst, sondern es ging um die Verwirklichung des Mottos „Make Friends not Art“: Also gemeinsam abhängen und sich anfreunden.

Zwischen den aufgeregten Diskussionen und Fehlern aller Verantwortlichen ging die Kritik der Kunstlosigkeit dieser documenta unter. An ihrem Ende zitierte die Fuldaer Zeitung den Kunstwissenschaftler Harald Kimpel mit seinem verheerenden Urteil über den ästhetischen Wert: „Mein Hauptproblem ist die Entkunstung der documenta, von ausgestellten Kunstwerken kann keine Rede sein.“ Dagegen sind die Antworten der – endlich einmal gefragten – Kunstschaffenden in Kleinsassen bildhafte und skulpturale Statements mit diversen künstlerischen Mitteln!

Der bekannteste Teilnehmer ist Jonathan Meese, einer der bedeutendsten deutschen Künstler der Gegenwart. Statt ein Kunstwerk zu liefern, verfasste er ein Manifest eigens für die Kunststation.

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Im Schatten der Ereignisse…

Moritz Götze präsentiert in seiner Studioausstellung in der Kunststation, Grafiken unter dem Titel „Im Schatten der Ereignisse“. Seine Farbdrucke sind nicht Teil der parallel eröffneten aktuellen Frühjahrsschau, in der Kunstschaffende nach „Antworten auf die documenta fifteen“ suchen. Doch deren Auseinandersetzung mit der momentan heftig gehypten Ideologie der kulturellen Aneignung, zieht sich ebenfalls durch Götzes Werk:

Munter und farbenfroh zitiert er Kunstobjekte und Künstler – von der Antike bis zur Gegenwart, von Tischbein bis Picasso – und eignet sich deren Werke mit spielerischer Unbekümmertheit an. Eine immergleiche blonde Frau hält madonnenhaft ein erwachsen aussehendes Kind im Arm, fläzt sich (wie Goethe in der Campagna) vor einem ausbrechenden Vulkan oder stapft durch die Großstadtnacht: „Die Nacht weiß nichts von sich selbst so wie ich“, hat er groß drauf geschrieben.

In angedeuteten Landschaften erscheinen auch Engel und Rehe, antike Scherben und Säulenreste liegen herum, oft verweisen Malutensilien auf den Künstler selbst. Antikenbewunderung oder Italien- und Griechenlandsehnsucht mischen sich mit seiner unbändigen Gestaltungslust. Götze zeigt auch reine Wimmelbilder, in denen er beginnt, eigenwillige und rätselhafte Geschichten zu erzählen. Formal sind seine Perspektiven und Raumaufteilungen ziemlich abenteuerlich, die absurden Größenverhältnisse irritieren. Dadurch changiert die Wahrnehmung des Betrachters zwischen Realität und Traum.

Seine Farbdrucke sind von Popart, Comics und Emaillearbeiten inspiriert, doch sie weisen eine bedeutsame und berührende Tiefe auf. Hinter der scheinbaren Naivität seiner Gestaltung verbirgt sich eine intensive Recherche der historischen Themen, die er sich jedoch mit „instinktsicherer Respektlosigkeit gegenüber der kanonisierten Geschichtsschreibung“ (Kristina Volks) aneignet.

Merz hat einmal über seine Kunst gesagt, sie sei wie ein Karussell, auf dem alle möglichen Geschichten fahren dürften. Er möchte den Betrachtern mit seiner eigenen visuellen Sprache Freude bereiten, sie aber auch ein wenig ins Nachdenken bringen. Jedoch ist dazu kein aufwendiges Studium der historischen Hintergründe nötig – so wie sie sind, sprechen die Bilder, ganz „im Schatten der Ereignisse“, erst einmal für sich selbst! 

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Rundgang Kunststation: Bodo Korsig

Man kann die Arbeiten Bodo Korsigs in seiner Schau „Gedankenströme“ ganz unbefangen betrachten, ohne etwas über seine künstlerischen Absichten zu wissen.

Nehmen wir das mächtige Filzobjekt „Escape from Memory“ (Foto) mit den ausgeschnittenen Mustern, den „Cut-outs“ wie man neudeutsch sagt. Die Skulptur, wie er sie nennt, hängt an der weißen Wand der großen Halle und fließt auf dem Boden aus. 

Die Arbeit ist einfach eine schöne aber auch verwirrende Gestaltung – und zugleich bewegend: Sie mutet an wie eine im Bildwerk festgehaltene Klangkomposition, die Tanzlust provoziert. Doch man kann in dem löchrigen – etwa zwei mal vier Meter – großen Gebilde auch skurrile Wesen, grimmige Fluggeister, bedrohliche Gewächse entdecken und sich fragen: Was machen die denn hier miteinander? 

Es überrascht nicht, dass Korsig vor 25 Jahren eigentlich mit großformatigen Holzschnitten bekannt wurde, diese Technik findet sich in seinen „Cut-outs“ wieder. Doch erstaunlicherweise liegen den – scheinbar zunächst einfach zu interpretierenden schwarzen Filz-Objekten – komplexe Überlegungen des Künstlers zugrunde. „Ich stehe hinter Dir und schaue durch dein Gehirn“, spaßt der Künstler mit einem Besucher. Tatsächlich scheinen dessen vergrößerten neuronalen Strukturen wie ein lebendes Bild an die Wand projiziert zu sein: Ein „Windows of the Mind“, ein Fenster des Gehirns, wie die hier besprochene Arbeit früher einmal hieß. 

Dennoch sind Korsigs Werke nicht theoretisch überfrachtet: „Das Leben ist ernst genug“, meint der In New York und Trier lebende Künstler, „es muss auch Spaß machen.“

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Rundgang Kunststation: Anette Kramer

In ihrer Studioausstellung verweben sich Erinnerungen, Träume und Leben…

Anette Kramers langgezogenes Wimmelbild „Sichtbares und Unsichtbares“ dominiert eine Wand in ihrer Studioausstellung „Begegnungen“ in der Kunststation: Schemenhafte menschliche Gestalten hat sie hinter- und nebeneinander mit schwarzer Tusche auf eine drei Meter lange Papierbahn gemalt. Die Wesen tanzen, turnen, streiten, begegnen sich oder stoßen einander ab. 

Insgesamt kann man als Betrachter das Bildwerk gar nicht auf einmal erfassen, selbst wenn man weit zurücktritt. Man muss daran entlang gehen, es weiter betrachten, gleichsam hineintauchen. Nun lösen sich einzelne Gestalten aus dem Gewimmel der „Begegnungen.“ Danach erkennt man ein Paar, in schwarze Tusche als Sgraffito gekratzt. Schwebt darüber ein Umriss der Beiden? Ist das ein Traum des Paares oder das Verblassen gemeinsamer Erinnerungen? Dann folgt eine andere Zeit, ein anderer Ort, umrisshaft treffen im Gewühl erneut Menschenwesen aufeinander. Schließlich beendet ein Tanz oder ein Kampf die getuschten Erzählungen Kramers. Alle dargestellten Situationen sind weder eindeutig ausgemalt noch inhaltlich wirklich greifbar. Man muss sie immer wieder neu ansehen und sich ständig fragen, was passiert denn hier eigentlich? 

Die Gleichzeitigkeit von Ereignissen, aber ebenso von Erinnerungen und Gegenwärtigem, Realität und Fantasie, also „Sichtbares und Unsichtbares“, wird von der Künstlerin dargestellt – und hier für uns in ihrer Arbeit sinnlich erlebbar. Doch unsere Begegnung mit dem Werk ist ebenfalls durch eigene Prägungen, Erfahrungen und aktuelle Stimmungen beeinflusst. Unsere individuellen Beobachtungen und Wahrnehmungen, die wir hinterfragen könnten, spielen im Bilderlebnis gleichfalls eine Rolle…

Kramers Ausstellung ist eine Einladung ihrer Idee zu folgen: „Leben ist eingewoben in Raum und Zeit und Leben ist Bewegung.“ Auch die übrigen Arbeiten der Hünfelder Künstlerin lassen sich so ansehen und interpretieren wie das zentrale Wimmelbild.

Die Studioausstellung „Begegnungen“ endet am 18. April.

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Frühjahr in der Kunststation

Beim Rundgang durch die Frühjahrsausstellungen in der Kunststation kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Was für eine unglaubliche Vielfalt an Werken – aus verschiedensten Materialen und mit unterschiedlichsten Techniken – haben vier Kunstschaffende in ihren individuellen Ausstellungen zusammengetragen.

Alle Künstlerinnen und Künstler waren zur Eröffnung anwesend, um mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen.

Peter Mayer zeigt zahlreiche Collagen und Installationen aus Hunderten unterschiedlicher Fundstücke, wie Fahrradschläuchen, verwelkten Pflanzen oder Polaroid-Fotos. Bodo Korsig präsentiert riesige Filzobjekte mit herausgeschnittenen Mustern und Installationen. Sonja Kuprat entführt das Publikum in grellfarbige oder finstere Wolkenlandschaften die zum Träumen anregen. Anette Kramer zeigt in der Studioausstellung ihre gezeichneten Figuren mit gleichen Bewegungen aus unterschiedlichen Perspektiven. 

„Wahrnehmung“, betonte Kuratorin Dr. Elisabeth Heil bei der Vernissage, das sei „ein Wort, das immer wieder in Texten über Kunst, Künstlerinnen und Künstler vorkommt.“ Doch Wahrnehmung ist ein komplexer Prozess, der nicht nur die Sinne anspricht, sondern durch innere und äußere Prozesse beeinflusst wird. Kunstschaffende hinterfragen diese Wahrnehmungsprozesse, spielen, verfremden oder irritieren sie bewusst mit ihren Gestaltungen.

„Fluide Bildwelten“, der Titel von Mayers Collagen macht deutlich, dass die vielen Fundstücke die er miteinander verbindet, Momentaufnahmen seiner Erinnerungen sind. Zu jedem „Teilchen“ erzählt er Geschichten, Feldpostbriefe fand er in einem gekauften Haus, Portland-Zementsäcke brachte er aus Marokko mit. Das klingt spannend, aber man muss es nicht wissen, um sich von den riesigen Werken berühren zu lassen, die einen in seiner Schau zunächst begegnen. Man kann zwar versuchen Mayers Geschichten zu entschlüsseln, doch seine Arbeiten sind keine Ratespiele. Es sind ästhetische Kompositionen, die etwas in uns zum Schwingen bringen. 

Korsigs „Gedankenströme“, so der Titel seiner Installationen und Objekte, liegen komplexe neurologische Phänomene zugrunde – aber auch die muss man nicht nachvollziehen, um die einzelnen Arbeiten auf sich wirken zu lassen.

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„Tradition ist nicht das Bewahren der Asche…“

Beinahe ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung, präsentiert ein afrikanisches Tanzensemble die Wiedereinstudierung des “Frühlingsopfers“ von Pina Bausch in Wuppertal. Der Film, der die Erarbeitung des Stückes dokumentiert, erschien jetzt auf DVD.

Aggressive schwarze Tänzer stampfen rhythmisch durch Torf auf dem Bühnenboden. Verzweifelt klammern sich dunkelhäutige Tänzerinnen in weißen Kleidern aneinander, manche winden sich in der Moorerde. Eine der Frauen wird das Opfer und muss sich im roten Kleid zu Tode tanzen… Diese Performance ist kein Als-ob-Theater, die Beteiligten agieren real bis zur völligen Erschöpfung.

Vom Publikum wurde die, bis ins Detail rekonstruierte Choreografie durch die ad hoc gebildete afrikanische Compagnie, frenetisch gefeiert. Bauschs Interpretation der Ballettmusik Igor Strawinskys – in der Tradition des deutschen Ausdruckstanzes – begründete einst den internationalen Ruhm als Pionierin des Tanztheaters und ist bis heute ihr am meisten gespieltes Stück.

Dieses Event ist die erste und exemplarische Kooperation des Wuppertaler Tanztheaters mit der Pina-Bausch-Stiftung ihres Sohnes. 14 Jahre nach dem Tod der Choreografin sind die grotesken Streitereien um ihre Nachfolge überwunden. Der Ausbau des alten Stadttheaters zum Pina-Bausch-Zentrum ist planerisch vollendet, die öffentliche Finanzierung gesichert. Nach einigen Irrwegen sind die Ziele festgelegt: Ihr Werk soll gepflegt, aber ebenfalls neue Wege des Ensembles ermöglicht werden, unter anderem durch die Kooperationen mit Kunstschaffenden aus anderen Bereichen. Die Partizipation des Publikums ist angestrebt, derzeit werden 200 Laien für ein tänzerisches Straßenprojekt gesucht. 

„Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der Flamme.“ Das gilt für das weiterhin gezeigte choreografische Werk der Choreografin. Dessen Themen – was tun Menschen um geliebt zu werden oder der Widerspruch von Nähe und Distanz in der Liebe – sind ja weiterhin hochaktuell. Stets sind die Wuppertaler Vorstellungen ausverkauft und begeistern auch junge Leute. Alljährlich geht die Compagnie auf Welttourneen mit den rekonstruierten Stücken.

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Steven Spielberg: Sein persönlichster Film…

Jeder Film ist eine Fiktion, selbst wenn er auf wahren Begebenheiten beruht: Auch der neue Film Steven Spielbergs „Die Fabelmans“, ist zwar durch seine frühe Lebensgeschichte inspiriert, aber er hat sie kreativ umgestaltet und dramatisiert. Per se changiert die Story also zwischen Fiktion und Wirklichkeit.

Man muss kein Liebhaber des wohl erfolgsreichsten Regisseurs und Produzenten der Kinogeschichte sein, um den Film anzusehen – im Gegenteil! Wenn man Spielberg bisher eher kritisch gegenüberstand, wie der Verfasser dieser Zeilen, nimmt einen „Die Fabelmans“ (ein fiktiver Name) für den Filmemacher ein. Der Streifen beginnt mit dem ersten Kinoerlebnis des sechsjährigen Sammy, den seine Eltern mit ins Kino nehmen wollen, obwohl der Kleine etwas ängstlich ist. „Filme sind doch Träume“, meint seine Mutter beruhigend, aber „Träume sind unheimlich“, erwidert der bockige Junge. 

Die Familie sieht Cecil DeMilles „Die größte Schau der Welt“, in dem ein Auto mit einem Zug zusammenstößt und zwei Züge aufeinanderprallen. Diese Szene lässt Sammy nicht los, immer wieder spielt er sie mit seiner Modelleinbahn nach. Bis seine Mutter auf die Idee kommt, ihm die Super-8-Kamera des Vaters zu geben: „Dann muss der Unfall nicht immer wieder aufs Neue passieren!“ So lässt es der kleine Fabelman nur noch einmal für die Kamera krachen und kann dann den Schreck der garstigen Szene im Kino bewältigen. In Wirklichkeit hat Spielberg dieses Erlebnis erst einige Jahre später gehabt, als er den Streifen heimlich sah. Aber bedeutet diese Verschiebung irgendetwas für diesen Spielfilm? Natürlich nicht, denn authentisch ist, dass am Beginn seiner gigantischen Karriere diese Episode stand.

Die weitere Entwicklung ist schnell erzählt: Sammy ist fasziniert von den Möglichkeiten der filmischen Aufzeichnung und gibt die Kamera nicht mehr aus der Hand. Er hält dokumentarisch die zahlreichen Umzüge der Familie fest, zufällig auch vertrauliche Ereignisse mit dramatischen Hintergründen (die hier nicht verraten werden). Die kleinen Geschwister werden zu Mumien, wenn er sie in Klopapier einwickelt. Später müssen seine Pfadfinder als Cowboys oder Soldaten herhalten, schließlich sogar seine aggressiven antisemitischen Mitschüler. Sammys erste Liebesgeschichte als kleiner Judenjunge mit einer superfrommen Katholikin ist von hinreißender Komik, wie auch andere Begegnungen.

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„TÁR“ Musik Macht Missbrauch

Auf der Berlinale hatte der Film TÁR mit Cate Blanchett seine Deutschland-Premiere, jetzt kommt er in die Kinos

Lydia Tár (Cate Blanchett), die fiktive Stardirigentin der Berliner Philharmoniker, braucht lange um uns in ihre glamouröse Welt mitzunehmen. Zwischen New York und Berlin lebt sie in einer Blase, führt hochelaborierte Gespräche über Musik, trifft angesehene Intellektuelle oder berühmte Musiker und ist besessen von ihrem Job, in dem sie endlich auch noch Gustav Mahlers „Fünfte“ einspielen möchte. Nach gefühlter endloser Kinozeit lernen wir auch ihre Frau Sharon Goodnow (Nina Hoss) und deren adoptiertes Kind Petra (Mila Bogojevic) kennen. Das wird in der Schule gemobbt und Tár lässt es sich nicht nehmen, persönlich einer Peinigerin ihrer Tochter Prügel anzudrohen: „Ich bin Petras Vater!“

Sie geht auch recht ruppig mit den Instrumentalisten ihres Orchesters um und will den Ersatzdirigenten, „diesen Roboter“, loswerden. In ihrem amerikanischen Lehrauftrag führt sie arrogant einen schnöseligen Musikstudenten vor, der sich weigert Bach zu spielen: Weil der so frauenfeindlich gewesen sei, dürfe man ihn heutzutage nicht mehr anhören. Als eine blutjunge russische Cellistin sie bezirzt, gibt sie deren Werben nach und will sie gleich zur Solocellistin machen. 

Tár ist kein sexistisches Monster, aber hier spürt man zum ersten Mal, dass die Grande Dame ihre Macht auch privat nutzt. Dann geht alles sehr schnell, denn die Blase platzt: Ein ehemaliges amerikanisches Orchestermitglied hat sich umgebracht, mit ihr hatte Tár eine Affäre und sie dann fallengelassen. Die Familie macht die Dirigentin für den Tod ihrer Tochter verantwortlich. Gleichzeitig taucht im Internet ein manipuliertes Video vom Streit mit dem Studenten auf. Mehr erfährt man nicht, aber Tár wird nun im wahrsten Sinn des Wortes erlegt: allein aufgrund der Gerüchte wird sie als Dirigentin suspendiert, der Lehrauftrag wird ihr entzogen, die Plattenproduktion macht jetzt „der Roboter“. Nachdem sie ihn auch noch während des Konzerts von der Bühne prügelt, stürzt sie ins Bodenlose…

Im letzten Jahr wurde der Film bei den Filmfestspielen in Venedig uraufgeführt, Blanchett erhielt den Preis für die beste Hauptrolle und wird seitdem für ihre leidenschaftliche Darstellung – „Ein Star spielt einen Star“ – weltweit gefeiert und prämiert.

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Die Transformation Pink Floyds

Das Ensemble Echoes verwandelte am Sonntagabend, mit seinen eigenartig interpretierten Stücken der sagenhaften Band Pink Floyd, die Orangerie in einen Konzertsaal. Auf ihrer Akustiktour nutzt die Gruppe keine elektrischen Instrumente, keine Synthesizer, wohl aber Mikrofone und Verstärker.

Aus dem Bühnennebel ertönt zarte Glasmusik, behutsam setzt eine Klarinette ein, es wird heller. Langsam, äußerst langsam entwickelt sich das Intro. Hohe Gitarrenklänge, dann ganz zart das Klavier. Schließlich erdröhnt satt das Schlagzeug, die Klänge werden voluminöser, nun setzt der Gesang ein: „Remember when you were young / You shone like the Sun. / Shine on you crazy diamond…”

„Erinnere dich als du jung warst“ – aber gleich der erste Song macht auch deutlich, hier wird keine Nostalgie zelebriert, sondern die Echoes transformieren Pink Floyd gleichsam in die Gegenwart. Weitere, eher rockige Titel der Platte „Wish You Were Here“ (1975) mit kräftigen Saxophonklängen folgen, die Sängerin kommt dazu. In der fast ausverkauften Halle entflammt die Band sofort das mitklatschende Publikum. Bald gesellt sich auch das weibliche Streichquartett zu den Musikern, beim Song „Welcome to the Machine“ treibt es mit Geigen und dem markanten Cello den Rhythmus von Bass und Schlagzeug voran. In späteren Stücken unterstützen sie auch mit hohen schrillen Streichtönen die Gitarren, niemals werden sie süßlich.

Vor der Pause erklingt der zwanzigminütige Song „Echoes“, nach dem sich die Gruppe benannte. Das programmatische Werk markierte 1971 den Übergang Pink Floyds, die Entwicklung von Psychedelic- zu Art- und Progressive-Rock. Auch die Interpretation in der Orangerie folgt dem vielschichtigen Aufbau des Originals, der ganzen Spannweite von sanften Klängen, rockiger Musik über heulende, sirrende, atonale Geräusche bis zu Anklängen Neuer Musik: „…And no one sings me lullabies / And no one makes me close my eyes…“

Nach der Pause sind Songs von den Platten „The Dark Side oft he Moon“ (1973) und „The Wall“ (1979) zu hören: „Hey, teacher, leave us kids alone“, singt das Publikum feste mit. Es ist erstaunlich, wie abwechslungsreich und vielschichtig die Echoes mit Titeln von nur drei Platten aus dem 1970er-Jahren, die zweieinhalb Stunden des Abends gestalten. Rockige, manchmal angejazzte Tanzstücke, dann wieder komplexe, achtsam aufgebaute – vom Pathos Pink Floyds befreite – Musikdramen.

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Same, same but different…

Neue Wege des Tanztheaters Pina Bausch
Beinahe ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung, zelebriert ein afrikanisches Tanzensemble kraftvoll die Wiedereinstudierung des “Frühlingsopfers“ von Pina Bausch in Wuppertal.

Aggressive schwarze Tänzer stampfen rhythmisch durch Torf auf
dem Bühnenboden. Verzweifelt klammern sich dunkelhäutige Tänzerinnen in weißen Kleidern aneinander, manche winden sich in der Moorerde. Eine der Frauen wird das Opfer und muss sich im roten Kleid zu Tode tanzen… Diese Performance ist kein Als-ob-Theater, die Beteiligten agieren real bis zur Erschöpfung.

Ende Januar wurde die, bis ins Detail rekonstruierte Choreografie durch die ad hoc gebildete afrikanische Compagnie, vom Publikum frenetisch gefeiert. Pina Bauschs Interpretation der Ballettmusik Igor Strawinskys – in der Tradition des deutschen Ausdruckstanzes – begründete ihren internationalen Ruhm als Pionierin des Tanztheaters und ist bis heute ihr am meisten gespieltes Stück.

Dieses Event – mit einer weiteren Darbietung der Wuppertaler Compagnie „Café Müller“ (Foto links) und dem Duo einer jeweils sehr alten weißen und schwarzen Tänzerin „common ground“ (Foto rechts) – ist die erste und vor allem exemplarische Kooperation des Tanztheaters mit der Pina-Bausch-Stiftung. 14 Jahre nach dem Tod der Choreografin sind die grotesken Streitereien um ihre Nachfolge überwunden. Der Ausbau des alten Stadttheaters zum Pina-Bausch- Zentrum, unter anderem mit fester Spielstätte für die Truppe und ihrem Archiv, ist planerisch vollendet, die öffentliche Finanzierung gesichert.

Nach einigen Irrwegen sind die Ziele festgelegt, das Werk soll gepflegt und erhalten, aber ebenfalls neue Wege des Ensembles ermöglicht werden. Dazu sind Kooperationen mit Kunstschaffenden aus anderen Bereichen – wie Architektur, Film oder Bildender Kunst – vorgesehen. Eine stärkere Partizipation des Publikums ist angestrebt: Derzeit werden 200 Laien für ein tänzerisches Straßenprojekt in der Stadt gesucht, das der neue Intendant Boris Charmatz initiiert.

„Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der Flamme.“ Das wurde exemplarisch an demTanzabend deutlich und gilt für das gesamte, weiterhin gezeigte choreografische Werk der Pina Bausch. Alljährlich geht die Compagnie auf Welttourneen mit alten Stücken. Deren Themen – etwa was tun Menschen um geliebt zu werden oder der Widerspruch von Nähe und Distanz in der Liebe – sind weiterhin hochaktuell. Stets sind die Wuppertaler Vorstellungen ausverkauft und werden auch von jungen Leuten gefeiert. Viele der Neuen, die in den aufgefrischten Choreografien tanzen, kennen Pina Bausch gar nicht mehr. Ehemalige Ensemblemitglieder ermöglichen durch ihre Mitarbeit die präzise „Rollenweitergabe“:

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