„Der Tod und das Mädchen“ und „Shuv“ an einem Tanzabend in Kassel

Unterschiedlicher können Tanzstücke heutzutage kaum sein: Zuerst die zeitgenössische und doch neo-romantische Tanz-Interpretation des Gedichtes „Der Tod und das Mädchen“ zur erweiterten Orchester-Variante Gustav Mahlers, nach der Musik von Franz Schubert. Und dann im zweiten Teil des Abends die fast mathematisch konstruierten, unterkühlten Tänze „Shuv“ zu ebenso konstruierten Klängen des Minimal-Musik-Komponisten John Adams.

„Der Tod und das Mädchen“

Im Saal ist es noch hell, die Leute schwatzen. Auf der Drehbühne führen zwei Treppen ins nirgendwo oder in den Himmel, in der Mitte liegt eine dicke rote Turnmatte. Sanft dreht sich die Bühne, immer wieder erscheinen eine Tänzerin oder ein Tänzer, ringelt und windet sich auf dem roten Gebilde, das wohl ein Bett symbolisiert.

Es wird dunkel, Mahlers Musik beginnt, drei Männer in schwarzen Kleidern räkeln sich auf der staubenden Matte. Sie sind der verdreifachte Tod, agieren mit sexuellen Positionen, Turnübungen oder Kampfposen. Zwei malträtieren auch mal den dritten Mann. Irgendwie vergnügen sich die Tode mit ihren Fantasien, was sie wohl mit dem Mädchen alles anstellen könnten…

Die Musik verstummt. Drei Tänzerinnen kommen, spielen in der Stille Mädchen beim Spitzentanz. Dann bilden sie mit den Toden drei Paare, locken einander, turteln herum. Bald bedrängen sie sich, weisen sich zurück, ringen leidenschaftlich miteinander, raufen um Nähe und Distanz. Die Musik setzt wieder ein. Mal ziehen sich zwei Paare an die Treppen zurück, überlassen das rote Turnbett einem erotisch-aggressiven Pas de deux, dann verdreifachen sie sich erneut. Irgendwann klemmen sich die Mädchen die Tode unter die Arme, zärtlich aber energisch schleppen sie sie die Treppen hoch. Ganz zum Schluss liebt sich ein nackt wirkendes Paar auf der Matte mit lautem Gelächter.

In der Vorlage von Matthias Claudius, dem Gedicht der „Tod und das Mädchen“, fleht das Mädchen: Vorüber! Ach Vorüber! / Geh wilder Knochenmann! / Ich bin noch jung, geh Lieber! Und rühre mich nicht an.“ Dagegen säuselt der Tod: Gibt deine Hand, du schön und zart Gebild! /Bin Freund und komme nicht zu strafen. / Sei guten Muts! Ich bin nicht wild. / Sollst sanft in meinen Arten schlafen!“

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„Selig sind die Toten“ – Mozarts Requiem als Gesamtkunstwerk

Das ausverkaufte Kasseler Staatstheater präsentierte Wolfgang Amadeus Mozarts „Requiem“ im Rahmen des Themas Tod in dieser Spielzeit. Mit Ovationen im Stehen bejubelte das Premierenpublikum das mutige, experimentelle Gesamtkunstwerk „Selig sind die Toten“: Zur Musik des Staatsorchesters und Gesängen des Opernchores tanzt das Ensemble „Tanz_Kassel“. Dazu wird der unvollendeten Todesmesse des Komponisten – im Wechselspiel mit seinen klassischen Klängen – zeitgenössisches Sound-Design hinzugefügt. 

Der Vorhang hebt sich, die Bühne liegt im Dunklen. Vage erkennbar eine Menschenkette mit Grablichtern, die langsam nach vorne schreitet. Es ist der Chor, der bald das „Requiem“ anstimmt, um Ruhe und Licht für die Toten zu erbitten. Davor kaum sichtbar eine weiße Gestalt, die sich windet, reckt und streckt. Eine ruhige, meditative Atmosphäre entsteht.

Doch dann grelles Licht in einer kleinen weißen, über der großen schwebenden Bühne. Krasse Technoklänge erdröhnen. Die Gestalt taucht oben auf, nach und nach quellen weitere, nur spärlich bekleidete Menschen aus der Notausgangstür herein. Später farbiges Licht. Wilde Tänze. Viel Geschrei. Dann Stille, die Orchesterbühne fährt hoch. Der Chor erscheint auf der kleinen Bühne, intoniert die „Sequenzen“. Rhythmisch bewegen sich die Singenden, während die Tanzenden mühselig aus der Höhe heruntergleiten. Auf der Bühne ein Berg Kleider. Die Menschen ziehen sich an, begegnen sich ungestüm zu Mozarts dramatischer Musik. Angesichts des Todes zeigen sie Verzweiflung. Hoffnung. Entkommen. Sich fügen…

Die Company illustriert nicht die Texte der Messe, sondern setzt sie in ihre Bewegungssprache um. Oft frieren die Performenden in den Aktionen ein, schaffen berührende Szenenbilder. Alle Singenden treten ohne Notenblätter auf und werden häufig in die Choreografien eingebunden. Solistinnen und Solisten bewegen sich mitten im Ensemble und kreieren manchmal Pas de deux mit Tanzenden. 

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„Eternal Prisoners“ – großartiges Tanztheater in Kassel

Das Kasseler Staatstheater zeigt mit dem Titel „Eternal Prisoner“ (Ewige Gefangene) zwei recht diverse Tanzstücke verschiedener Choreografen.

Eine Tänzerin ist als grelle Sängerin auf einer fahrbaren Rampe in heftiger Bewegung erstarrt. Zu ihrem Micky-Maus-Gekrächze, das sich später als Playback erweist, schieben seltsame Figuren mit starren Gesichtern, schlechten Perücken und sportlich-schrillen Klamotten die Rampe an den Bühnenrand. Eckig auf Händen und Füßen gehend, den Hintern in die Luft gestreckt, krabbeln sie hoch zur Sängerin. Plötzlich toben sie wie lebendig gewordenen Schaufensterpuppen mit rhythmisch-abstrusen Bewegungen auf der Minibühne herum. Die Tanzenden frieren ein, werden zeitlupenhaft lebendig, tanzen erneut, formieren sich zu szenischen Skulpturen: Köpfe nähern sich zum Küssen und zucken zurück. Manche schreien stumm. Einzelne zeigen hirnrissige Model-Posen. Ausdruckslos mimen stumme Körper wilde Playback-Gesänge. Eine zeigt Spitzentanz im Nebel auf Roller Blades.

Das kleine Ensemble dekliniert mal hysterisch und aufgedreht, mal behutsam und stoisch Künstliches durch – kreiert Rockstars, Roboter, Schaufensterpuppen, Androiden. Kurze dramatische Momente blitzen auf, in flüchtigen Szenen wird Schmerz, Gewalt, Zuneigung sichtbar, doch nichts ist echt und wirklich, alles ist Schein. Einzelne brechen aus, jubeln „ich existiere“ – werden aber von anderen gemaßregelt: „Du existierst NICHT!“

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