Sarkastisch und engagiert

3.000 Leute feierten am Sonntagnachmittag den Comedian Dieter Nuhr in der ausverkauften Esperantohalle. Die große Überraschung – der Spaßmacher ist nicht nur bissig und sarkastisch, sondern auch positiv und engagiert. Man spürt, er ist kein Zyniker, wie seine linken oder rechten Kritiker oft behaupten, doch konsequent legt er seine Finger in viele offene gesellschaftliche Wunden. 

Sofort legt der Satiriker mit Donald Trump los, der aktuell in einem Bild als Papst posiert. „Dass der sich damit zufriedengibt, nur Stellvertreter Gottes zu sein“, meint er nachdenklich. „Aber ich respektiere ihn…als Kollegen. Putin lacht sich tot über ihn.“ Immer wieder will der Kabarettist mit dem Programm beginnen, aber ständig fällt ihm Neues ein: „Trumps ökonomischer Sachverstand ist so minimal, da könnte man sogar den Habeck als Berater schicken.“ 

Das ist bereits alles, was er zur Ampel-Koalition sagt, die ihm bisher so viel thematischen Zündstoff bot, stattdessen kommentiert er scharfzüngig die derzeitige politische Entwicklung. Fort sei nun „die fleischgewordene Aktentasche mit dem Charisma eines gefrorenen Fischstäbchens“, meint er über Scholz. März, der kommende Kanzler, wackle wie eine Figur der Augsburger Puppenkiste, Söder handle mit der Anmut eines Hütchenspielers, und Esken habe die Ausstrahlung einer Karteileiche. Gegen diese Leute könnte die AfD auch Schimpansen aufstellen, die würden – nicht nur im Osten – gewählt werden.

In einem bunten Reigen der Komik springt er vom medizinischen Notstand oder dem inflationären Gebrauch des Schimpfwortes „Nazi“ schließlich zur Sommerzeit. Wut sei ja der Urzustand der Deutschen: Eine Stunde habe man ihnen geklaut werde allerorten gejammert oder die innere Uhr funktioniere nicht mehr. „Aber bei einer Uhr im Bauch muss man zum Arzt“, weiß er. Grundsätzlich sieht er das Missverständnis, die Regierung habe die Aufgabe, allen Unzufriedenen die erwartete Heilung und Erlösung zu bringen. Viele Leute haben zu hohe Erwartungen an die Politiker, die angeblich für ihre Lebensunlust verantwortlich seien: „Die wollen gar keinen Kanzler, sondern einen Pfleger!“ 

Nuhr möchte nicht immer nur das Negative und Unschöne berichten. Eigentlich wolle er Frohsinn verbreiten: „So wie das Orchester auf der untergehenden Titanic. „

Weiterlesen

Leichen pflastern seinen Weg: Richard III

Ella Späte, die Kulturpreisträgerin des Main-Kinzig-Kreises, entwarf die Komplettausstattung für das sensationell inszenierte Shakespeare’sche Drama „Richard III“ im Theater Plauen-Zwickau. Die bundesweit gefragte Bühnen- und Kostümbildnerin ist Partnerin des Steinauer Theatriums, das in Osthessen durch sein Figurentheater bekannt wurde.

Für „Richard III“, den größten Bösewicht der Theatergeschichte, entwarf sie das Bühnenbild, die Kostüme und Masken, sowie die etwa 50 Puppen und Figuren, die mit den sechs Schauspielerinnen in diesem Stück agieren. Viele ihrer Geschöpfe verkörpern Massenszenen, doch 15 von ihnen haben sogar Namen und Rollen. Ständig stolpern die Akteure über auf der Bühne liegende Gestalten, die von Richard getötete Rivalen symbolisieren. Die Königin trägt eine Latte auf den Schultern, an dem Figuren hängen und manchmal belebt werden. Immer bewusst erkennbar sind die zwei Puppenführerinnen, manchmal treten sie hinter ihre Wesen zurück, oft jedoch verdoppeln sie sichtbar deren Ausdruck. Die großartigen, von Ella Späte entworfenen Kostüme und Masken sind zeitlos schrill oder fantastisch. 

Richard giert nach der Macht und beseitigt brutal alle Verwandten und Widersacher, bis er endlich König wird. Doch auf dem Höhepunkt seiner Ambitionen überfallen ihn Skrupel und Zweifel: Das soll nun alles gewesen sein? Durch Ella Spätes Mitarbeit im Inszenierungsteam wird die letzte Königserzählung Shakespeares zum künstlerischen Bildertheater, das dem ortlosen Text und der gewaltigen Sprache des englischen Dichters gleichberechtigt entgegenwirkt: Daraus entsteht eine aufregende Hochzeit des dramatischen mit dem postdramatischen Theater. 


Zeitgenössisches Figurentheater ist beileibe kein Kindertheater und die brutalen Machenschaften Richards sind nicht auf die Bühne zu bringen: normalerweise finden sie nur in den Fantasien der Zuschauer statt.

Weiterlesen

Detlev Heinichen und die Bandbreite des modernen postdramatischen Theaters

Hommage für Detlef Heinichen
Seit sieben Jahren prägt der charismatische Kulturpreisträger, Macher des Theatriums und Bühnenkünstler Detlef Heinichen das kulturelle Leben weit über den Bergwinkel hinaus. Heute – am 12. April – begeht er den 70. Geburtstag, alleine auf dem Pilgerweg zwischen Porto (Portugal) und Santiago de Compostela (Spanien). 

„Dieser ‚Camino de Portugues‘ muss was Magisches haben“, sagt er, aber ihn leiten keine religiösen Gefühle, er nutzt die Wanderung zum Nachdenken. Heinichen ist kein Kauz, auch wenn er viele Solostücke mit seinem Figurentheater entwickelte. Er arbeitet gerne mit anderen Akteuren, das haben seine Werke über „Jonny Cash“ oder „Manche mögen‘s heiß“ offenbart. 

Seit er in der zweiten Klasse gekleisterte Papierfiguren zum Leben erweckte, fasziniert ihn das Puppenspiel. In seinem ersten Kinderstück staunte er, wie – unerwartet von ihm – die Kleinen reagierten. Seitdem entwickelte er Figurentheater als Hobby, doch in der Pubertät wurde es brenzlig, als er seine Werke im Hinterhof in Magdeburg aufführte. „Spätestens dann verabschiedet man sich ja von Puppen“, erinnert er sich, „aber für mich waren sie keine Kuschelpuppen, sondern Darsteller!“ Er hatte sogar einen „Bodyguard, zwei Jahre älter, zwei Köpfe größer als ich, der mein Spiel mochte und mich vor den Gleichaltrigen schützte.“

Mutig und naiv bewarb er sich mit 17 Jahren an der Schauspielschule, aber man empfahl ihm „noch zu reifen.“ Überraschend ermöglichte ihm der Chef der Zwickauer Puppenbühne eine theaterpraktische Ausbildung. Nach der Militärzeit studierte er ab 1975 an der renommierten Ernst-Busch-Schule in Berlin. Hier reifte er in dreieinhalb Jahren vom Puppenspieler zum umfassend ausgebildeten Schauspieler und kehrte nach Zwickau zurück: „Die gewährt mir eine Chance, ich wollte ihnen was zurückgeben.“

Doch dort wurde es dramatisch, denn 1980 wollte die Stasi – wohl angesichts der revolutionären Ereignisse in Polen – ein Exempel statuieren: Wegen „staatsfeindlicher Äußerungen und Verunglimpfung staatlicher Organe“ auf der Bühne, musste er ein Jahr „in die Produktion“ – in eine Brauerei und ein Ausbesserungswerk: „Das fand ich gar nicht so schlecht.“ Dann kam er nach Dresden, war hier kurz in Stasi-Haft und sah in der DDR keine Chance mehr für sich. 1986 stellte er den schnell bewilligten Ausreiseantrag.

In Bremen übernahm er ein antiquiertes Puppentheater und erneuerte es zu einem zeitgemäßen, gut besuchten Theatrium mit eigenem Festival. Heinichen war gut vernetzt in der avantgardistischen Szene der Stadt, von Peter Zadek bis Johan Kresnik.

Weiterlesen

Ein Besuch der Proben für die Kriminalkomödie „Scherenschnitt“

Das neu gegründete Theaterensemble ImmerDaneben präsentiert dem Besucher ihr Stück in einem ersten Durchlauf. Ein Friseursalon ist in einer leerstehenden Wohnung angedeutet, die Akteure kommen herein: Der Figaro macht ordinäre Bemerkungen über Körperbehaarung, die feine, aufgedrehte Dame neigt zur Hysterie, der düstere „Ausländer“ bleibt undurchsichtig, die freizügige Gehilfin des Friseurs ist zunächst noch verhalten. Dazwischen lässt sich der Kommissar inkognito rasieren.

Es sind scherenschnittartig wirkende Figuren, die hier mal fröhlich, mal sarkastisch aufeinandertreffen. „Soll ich hier getoastet werden?“, blafft die feine Dame unter der Haube. 

Entsetzlich laute Klaviermusik von Nachbarin Frau Czerny in der Wohnung obendrüber ertönt, der Barbier flippt aus: „Tagein, tagaus dieser Krach!“ Mit dem Rasiermesser fuchtelt er am Hals des Kunden: „Eines Tages bringe ich sie um.“ Kurze Zeit später ist die ältere Pianistin wirklich tot. Ermordet! Alle Auftretenden sind mal draußen gewesen, jeder kann sie getötet haben.

Hatte die reiche Czerny eine Beziehung mit der jungen Friseurin? Begrabbelte der Friseur seine Mitarbeiterin? Hat die feine Dame einen Lover? Ist der „Ausländer“ gar kein Fremder? Hat er eine Affäre mit der Coiffeurin? Während der Ermittlung kommen allerlei Geheimnisse und Bösartigkeiten ans Licht. Bald weiß man gar nicht mehr, wem man noch glauben kann. Alle haben ein Mordmotiv, unaufhörlich gibt es neue Wendungen: perfide Beschuldigungen werden konstruiert, aber scheinbare Beweise wieder zerpflückt. Und es gibt viel zu lachen.

Häufig entfernt sich die Handlung von der „Tatort“-Struktur, löst sich von gehässigen oder intimen Annäherungen der Beteiligten. Denn im Spiel geht es auch um alltägliche Ereignisse, die plötzlich eine andere Bedeutung bekommen, die Hinterfragung von scheinbar eindeutiger Wahrnehmung und unbewussten Vorurteilen. Die Zuschauer dürfen im „Scherenschnitt“ mitschnibbeln (müssen es aber nicht), es gibt Raum für Diskussionen oder Nachfragen an die Verdächtigen.

Bereits zu Beginn wird das Publikum gefragt, welcher Figur es einen Mord zutraut.

Weiterlesen

Figurentheater „Amadeus“ im Steinauer Theatrium

Das Theatrium in Steinau an der Straße präsentiert in einer Wiederaufführung ihr Figurentheater „Amadeus“. Das Solostück mit Puppen bietet ein spannendes Erlebnis für Erwachsene und kann auch diejenigen faszinieren, die normalerweise mit klassischer Musik wenig zu tun haben. 

„War ich es oder war ich es nicht, der Mozart umgebracht hat?“ ruft mit Shakespeare’schem Zungenschlag der alt gewordene Komponist Antonio Salieri zu Beginn der Aufführung. Detlef Heinichen gibt als großartiger Schauspieler diesen, von Hass auf Wolfgang Amadeus Mozart zerfressenen Wiener Hofkapellmeister. Am Ende seines Lebens legt der bejahrte Salieri eine Beichte ab, in der er von den Begegnungen mit dem jungen Mozart berichtet und seine Intrigen gegen ihn bekennt. Heinichen führt als alter Salieri durch das Stück und lässt mit seinen großartigen Figuren das Ende des 19. Jahrhunderts in Wien aufscheinen. 

Changierend zwischen Erzähler und Puppenspieler nimmt er sein Publikum mit auf die spannende Zeitreise: Gerade verlässt Salieri Italien für eine bescheidene Karriere in Wien, da tingelt der sechsjährige Mozart bereits durch ganz Europa. Dieses „obszöne Kind“, wie der Hofkapellmeister es nennt, kommt später als exaltierter Erwachsener nach Wien und mischt die kaiserliche Musikszene auf. Salieri ist begeistert von Mozarts Musik, doch bereits in der ersten Oper, „Die Entführung aus dem Serail“, „…legten die Instrumente Netze aus Schmerz über mich.“ So stark spürt der Italiener seine eigene Mickerigkeit und Mozarts Größe. 

Viele Werke des jungen Komponisten werden erfolgreich aufgeführt, die seiner Meinung nach „das wirkliche Leben und keine langweiligen Legenden beschreiben“. Der begnadete, aber in ärmlichen Verhältnissen lebende Musiker, gewinnt sogar Kaiser Joseph II für sich, doch eine feste Anstellung bekommt er nicht. Das verhindern der hasserfüllte Salieri und andere höfische Musikschranzen: „Zu viele Noten, zu kompliziert“, suggerieren sie dem Kaiser.

Das Stück „Amadeus“ folgt dem gleichnamigen, vielfach preisgekrönten Film Milos Foremans von 1984.

Weiterlesen

Staunen für Erwachsene – Figurentheater in Osthessen

Als Figurentheater für Erwachsene präsentiert das Theatrium in Steinau tatsächlich den legendären Film „Manche mögen’s heiß“. Eigentlich ist es unmöglich, solche Kultfilme, dazu noch mit einer Ikone wie Marylin Monroe, auf die Bühne zu bringen. Allerdings verbinden die Akteure klassisches Theater mit Puppenspiel und verlegen die Handlung in ein altes aufgegebenes Lichtspielhaus. 

Darin sind nur noch Ratten übriggeblieben, die alle Filme auswendig kennen, die jemals hier liefen. Natürlich sind diese Kino-Ratten keine ekligen Wesen, sondern freundliche Kuscheltiere, vor denen man sich nicht fürchten muss. Im Stück wollen sie bei einem Treffen mit befreundeten Nagern (den Zuschauern) den Kultfilm mit der Monroe ansehen. Doch der Streifen reißt – nun spielen sie selbst Szene für Szene in der Originalversion, aber mit grotesken Überraschungen.

Nun geschieht also eine mehrfache Verwandlung: Die drei menschlichen Akteure spielen Nagetiere mit langen Rattenschwänzen, sie beleben die Fellpuppen als Kinofiguren, von denen zwei – wie im Film – oft auch noch zwischen Mann und Frau changieren. „Grundsätzlich lieben wir es Stoffe auszusuchen, deren Umsetzung auf den ersten Blick erstmal unmöglich erscheint“, sagt Theatrium-Chef und Schauspieler Detlef Heinichen. Gerade die liebevolle Verfremdung der Ratten zu Filmlegenden, ermöglicht die Distanz der Zuschauenden zum kultigen Original.

Darüber hinaus verstecken sich die Akteure im Figurentheater nicht wie einst im Marionetten- oder Kasperlespiel. Sie sind stets sichtbar, bauen selbst die Bühne um und werden zu Mitspielenden. Während sie ihre Geschöpfe beleben, müssen sie ohnehin deren Bewegungen und Gefühle ausdrücken – das verdoppelt den dramatischen Ausdruck. Häufig kommunizieren sie auch untereinander oder mit ihren Wesen. Durch viel Licht, Musik und Gesang werden die meisten Stücke abgerundet. Im Theatrium sind auch Solostücke von Heinichen, mit wunderschön gefertigten Puppen wie in „Amadeus“ oder bedrohlichen Gestalten wie in „Adam und die Äpfel“, zu sehen.

Weiterlesen

Widersprüche nicht mit Kitsch zukleistern

„Schneeweisschen und Rosenrot“ ist das zweite Märchen der diesjährigen Brüder-Grimm-Festspiele in Hanau. Die Erzählung von den ungleichen Mädchen gilt als besonders klischeehaft. Doch abermals wird in dieser Inszenierung die traditionelle Geschichte zerlegt und neu erzählt.

Statt vor Kitsch triefender Harmonie betont das Musical – zunächst – die verborgenen Konflikte im Märchen und bringt sie auf die Bühne: Die zarte Schneeweisschen (Kristina Willmaser) ist vorsichtig und häuslich, während die deftige Rosenrot (Annalisa Stephan) mutig Eskapaden erleben möchte: „Ich muss hier raus, nur einmal. Das Abenteuer ruft“, singt sie. Durch einen unüberwindbaren Fluss ist die Welt geteilt, hier leben rationale Menschen, im Gehölz gegenüber magische Geister und Zwerge. Eines Tages können die Mädchen die Banngrenze überwinden. Auf der anderen Seite begegnen sie unwirklichen Wesen und dem bösen Zwerg, dessen Bart in eine Baumspalte eingeklemmt wurde. 

Das haben ihm zwei, auch charakterlich sehr verschiedene Königssöhne angetan, die ebenfalls in den Zauberhain gelangt sind. Dort suchen der „Bücherwurm“ und der „Abenteurer“ nach dem verlorenen Teil der Krone ihres Vaters. Denn einst wurden die rationale und die magische Welt von der „Krone der Eintracht“ zusammengehalten bis sie zerbrach und die Welt spaltete. Die Waldbewohner in ihren fantastischen Kostümen beschimpfen die menschlichen Eindringlinge als „dumme Glattgesichter“ und protestieren: „Wir sind der Wald!“ Aber einige Geschöpfe des Gehölzes wollen die Begegnung mit den Fremden statt sie zu vertreiben.

Natürlich verlieben sich die Königssöhne und die Mädchen, doch Prinz Tristan wird zwischendurch als Bär verzaubert, was die folgende Handlung noch aufregender macht. Ein Waldwesen kann „bärisch“ sprechen und des Tieres Anliegen vermitteln, wieder ein Mensch zu sein. Am Ende werden Gegensätze und Fremdheit versöhnt, ohne Unterschiede zuzukleistern. Zum ersten Mal in ihrem Leben trennen sich die Geschwister. „Viel zu lange war ich in deinem Schatten“, singt Schneeweisschen, dann beide im Chor: „Ich schaffe das alleine!“ 

Jan Radermacher, der das Märchen umschrieb, will die Diversität und Gemeinsamkeiten – nicht nur der Mädchen – beleuchten. Er wirft die Frage auf, „wie kann es ein Miteinander trotz größter Unterschiede geben? Warum macht uns der Gegensatz zu unserem Altbekannten oftmals Angst?“ 

Weiterlesen

Das Spital als Bühne – Der neue Roman von Meyerhoff

Wenn jemand ein „gutes“ Buch lesen möchte, will er wohl kaum etwas über Schlaganfälle wissen. Zwar erzeugt dieses gesundheitliche Desaster dramatische Gefühle, aber sind die Stoff genug für gute Literatur? Ja, das zeigt uns der unvergleichliche Schauspieler und Literat Joachim Meyerhoff in seinem fünften Roman.

Wie es ist, „wenn man vom Spielfeld der Junggebliebenen geschubst wird.“ Bei dem Fünfzigjährigen in Wien wird ein erschreckender Schlaganfall  „zu einem Schlagerl, das a bisserl bamstig macht“, wie seine Ärztin wienert. Der in Norddeutschland aufgewachsene Autor freut sich, dass eine Katastrophe bereits dadurch milder wird, wenn die Worte andere sind. Die Symptome seines Schlagerls und die erste Hilfe beschreibt er zunächst assoziativ, schnell und atemlos (fast) ohne Punkt und Komma.

Doch nach der Ankunft im Spital wird es ruhiger. In der ersten Nacht legt er sich ungeachtet der Schläuche und Herzkabel vorsichtig auf die geschädigte taube Seite. Dadurch „stellte sich ein frappierendes Gefühl ein: Ich schien zu schweben. Zwischen der unversehrten Körperhälfte und der Matratze lag eine Pufferzone aus tauber Materie. Jetzt war meine gelöschte Körperhälfte zum Luftpolster geworden, durch das heiße Partikel strömten.“ 

Neun Tage lang bleibt der Autor im Spital und verwandelt mit seinem schrägen Blick das Innere des Krankenwagens, die morgendliche Intensivstation oder später den Speisesaal in Theaterbühnen. Hier tritt das kranke oder medizinische Personal auf und stellt groteske Geschichten dar – und der Autor bleibt nicht außen vor, sondern ist darin verwickelt. So nimmt Meyerhoff schreibend Distanz, gerade zu seinen eigenen Ängsten und Kränkungen in beklemmenden Situationen. Ohne larmoyant oder zynisch zu werden. 

Weiterlesen

Unterhaltsam und irritierend zugleich: „Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm“

Der sehenswerte „Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm“ kommt jetzt in die Kinos. Auf zwei Ebenen zeigt der Streifen sowohl den Streit um die Verfilmung der „Dreigroschenoper“ als auch den von Brecht geplanten Kinofilm.

Beleidigte Schauspieler, zickige Diven, ein meuterndes Ensemble und furchtsame Produzenten. Doch unverdrossen bestimmte Bertolt Brecht 1928: „So wird es gemacht.“ Wider Erwarten wurde die „Dreigroschenoper“ eins der erfolgreichsten Stücke der Theatergeschichte. „Mackie Messer“ oder „Seeräuberjenny“, die Gesangseinlagen zu den Klängen des Komponisten Kurt Weill, erlangten Kultstatus. Bis zum Verbot durch die Nazis 1933, wurde die Bettleroper in 18 Sprachen übersetzt.

Der Tonfilm hatte seinen kommerziellen Durchbruch und nicht nur Brecht wollte einen Film aus seinem Bühnenwerk machen, sondern auch die deutsche Kulturindustrie. Allerdings hatten die Finanziers völlig andere Interessen als der Künstler. Der wollte sein Stück nicht abfilmen, sondern mit cineastischen Mitteln und wesentlich gesellschaftskritischer ins Kino bringen. Um seine Vorstellungen durchzusetzen, strebte Brecht als „soziologisches Experiment“ einen Gerichtsprozess an, den er verlor.

Diese authentische Geschichte liegt dem Streifen des Regisseurs und vorzüglichen Brechtkenners Joachim A. Lang zugrunde. Zugleich zeigt er auch den damals nie gedrehten „Dreigroschenfilm“ im Sinne Brechts als Film im Film: Laszive Tänze auf und unter einer Londoner Brücke, zu denen „erst kommt das Fressen, dann die Moral“ gesungen wird. Bald folgt Macheath (Tobias Moretti) auf der Straße dem „entzückenden Hintern“ Pollys (Hannah Herzsprung), den er – so wörtlich – heiraten will.

„Stopp! Stopp! Stopp!“, schreit es manchmal aus dem Off, dann fährt die Kamera zurück und man sieht Brecht (Lars Eidinger) mit den Geldgebern streiten. Die fordern die Erwartungen des Publikums zu befriedigen, der Streifen dürfe nicht vom Original abweichen. Außerdem könne „Pollys Hintern“ oder die „Zuhälterballade“ der Zensur missfallen. Doch Brecht verteidigt hartnäckig seine Ideen: „Warum keinem Hintern folgen, die Kunst folgt doch der Wirklichkeit!“

Trotz der häufigen Unterbrechungen zeigt der „Dreigroschenfilm“ mit sämtlichen Songs den von Brecht geplanten Streifen: Weiterlesen

Tiger vor dem Gorki-Theater – Eine makabre Kunstaktion zum Massensterben im Mittelmeer

Flüchtlinge wollen sich demnächst den, zeitweise beim Berliner Gorki-Theater untergebrachten Tigern zum Fraß vorwerfen lassen. Wer bisher Zweifel daran hatte, ob das Kunst ist oder eher eine politische Demonstration, kann nun in der Hauptstadt echtes Theater erleben: Ausgerechnet das Berliner Grünflächenamt entschied, das vom Zentrum für politische Schönheit initiierte Gesamtkunstwerk „Flüchtlinge fressen“ sei keine Kunst und müsse weg.

Dabei konnte man seit Josef Beuys kaum eine genialere Realisierung dessen Idee von Kunst als soziale Plastik mehr erleben. Die Berliner Künstler inszenieren – nicht zum ersten Mal – eine groteske provozierende Aktionen (was sind ein paar gefressene Flüchtlinge schon gegen das Massensterben im Mittelmeer?) und stehen zugleich persönlich für ihre Forderungen ein. Aber worum geht es nun eigentlich seit Mitte Juni?

Das Zentrum greift eine Kinderfrage auf, warum müssen die Flüchtlinge eigentlich ertrinken und kommen nicht mit dem Flugzeug? Eine gute Frage, denn ein Flug vom Nahen Osten nach Mitteleuropa ist preiswerter und allemal sicherer als die Kosten der Schlepperbanden. Doch eine EU-Richtlinie steht dem entgegen, die Fluggesellschaften werden bestraft, wenn sie Menschen ohne gültiges Visum nach Deutschland bringen.

Das Zentrum für politische Schönheit fordert nicht nur die sofortige Streichung des § 63.1 (die Linke hat das ebenfalls für den 24. Juni  im Bundestag beantragt), sondern sammelt auch Geld, um Ende Juni ein Flugzeug zu chartern. Das soll 100 syrische Flüchtlinge von Izmir nach Berlin bringen. Sollten die nicht in Deutschland angenommen werden, werfen sich freiwillige Flüchtlinge den Tigern zum Fraß vor.

Am Mittwoch, dem Tag nach dem Verbot war Unter den Linden alles wie immer in den letzten Tagen. Viele Touristen und Berliner warteten abends vor dem Raubtiergehege, sahen bei der Fütterung der vier Tiger (noch ohne Flüchtlingsfleisch) zu.

Not und Spiele! Weiterlesen