„Ich heiße Viktor. Ich bin wieder da!“

Mit einer sofort ausverkauften Neueinstudierung kommt erneut „Viktor“, das legendäre Rom-Stück von Pina Bausch, auf die Bühne des Wuppertaler Tanztheaters.


Neueinstudierung meint nicht die Veränderung oder Kürzung des wegweisenden Tanzstücks aus dem Jahr 1986, wie es einmal ein naseweiser Zahnspangen-Volontär in der ZEIT forderte. Im Gegenteil – alle Choreografien der 2009 gestorbenen Pina Bausch werden Bild für Bild, Szene für Szene detailliert und werkgetreu rekonstruiert. Dabei helfen ehemalige Tänzerinnen und Tänzer des Ensembles den Neuen oder Jungen und „übergeben“ ihre Rollen. In der aktuellen Inszenierung ist nur noch eine einzige Ballerina, Julie Anne Stanzak, aus der Originalaufführung von vor fast 40 Jahren dabei. Einige Male wurde „Viktor“ bereits in den letzten Jahrzehnten wieder auf die Bühne gebracht und hatte jeweils nichts von seiner Kraft und Berührung verloren.

Die Bühne wirkt wie eine viele Meter hohe Erdgrube, vielleicht ist es ein gigantisches offenes Grab, in dem das Ensemble agiert. Gelegentlich schippt ein Totengräber Erde herunter. Ein scheinbar lebloses Paar wird hereingetragen und auf dem Boden liegend, von einem Mann getraut. Zum Hochzeitskuss dreht er die beiden zueinander, danach rollen sie wieder einsam auseinander. Eine Frau wird in einen Teppich gewickelt. Die singende, hüpfende Tänzerin soll unter einem Wintermantel zum Schweigen gebracht werden. Zu einem bolivianischen Klagelied ruckelt eine sitzende Tänzerin, die Arme in die Luft schlingend, zur Rampe nach vorne. Sie wird von irgendjemandem zurückgeschleift und beginnt ihren tragischen, berührenden Tanz aufs Neue.

Andere Tanzende werden hereingetragen und hochgehalten. Plötzlich geht eine aufgeregte Versteigerung los, in der zum Geschrei der Auktionatorin auch Schränke, Bilder, Vasen und anderer Plunder herein- und wieder herausgeschleppt wird. Noch in der Totengrube, im Abgrund wird gefeilscht und gehandelt – aber auch geträumt und fantasiert, ein anderes Leben zu leben: Denn unaufhörlich versuchen sich hier Menschen zu finden, zueinander zu kommen. Als sich ein Paar küsst, mogelt sich eine Frau dazwischen. Verschämt lässt eine Tänzerin jemanden unter ihren Rock schauen. Mehrfach zieht sich eine andere kokett aus und ein neues Kleid an, geht lockend umher, zieht das Kleid aus und ihr erstes wieder an. Eine stopft Kalbfleisch in ihre Ballettschuhe und riskiert einen Spitzentanz. 

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Tanztheater „Europa brennt“

„Europa brennt!“ Das neue Stück der Compagnie Artodance ist keine durchgehende Erzählung, sondern eine Collage aus assoziativen Bewegungsbildern und Tanzszenen. Die Kulturpreisträgern des Main-Kinzig-Kreises, Monica Opsahl, präsentierte ihre Choreografie zur derzeitigen Situation in Europa, im Rahmen der KulturWerk-Woche 2024 in Schlüchtern.

Dramatisch beginnt das Tanztheater mit Flackerlicht, Schüssen und Explosionen im Hintergrund. Ein verzerrtes Cello intoniert die Europahymne, die „Ode an die Freude“, mit strengen soldatischen oder getriebenen Bewegungen ziehen drei Tänzerinnen über die Bühne. Plötzlich werden sie von zwei maskierten Kriegerinnen mit Maschinenpistolen bedroht, sie haben Angst, unterwerfen sich – doch sie versuchen auch sich zu wehren, gemeinsam gegen die Eindringlinge zu erheben.

Kreischige, tiefdröhnende Klänge fahren in den Bauch und machen die Tanzenden mutiger. Momente der Empörung und Abwehr, bis alle Beteiligten zu Boden sinken, während die Deutschlandhymne angespielt wird. Später drücken Einzelne mit eindringlichen stummen Schreien ihren Schmerz, ihre Trauer, ihre Leiden aus. Eine fällt um, wird von den anderen getragen, eine Stürzende wird aufgefangen und weitergereicht. In der Verzweiflung gibt es zu sanften Tönen immer wieder berührende Szenen mit Kontakt, Beistand, Verbundenheit. Vertieft wird die intensive Anmutung der Tänzerinnen für das Publikum, durch die hervorragende Licht- und Klanggestaltung (Arnold Pfeifer). 

Im zweiten Teil des Abends, die Frauen sind jetzt verschrobener alltäglich gekleidet, geht es abstrakter zu: Sie tanzen das Leben – begegnen sich, schaffen Distanz und Nähe, holen Ausreißerinnen zurück, werden auseinandergerissen. Zwischendurch frieren sie zu eigenartigen Menschenskulpturen ein, sind sie Überlebende? Um Rettung Kämpfende? Denn die Bedrohung ist nicht vorbei, das Draußen erreicht auch die KulturWerk-Halle. Das Schlussbild im Nebel, zu „alle Menschen werden Brüder“, ist sanft und versöhnlich. Jedoch der Tanzabend ist kein Traum. „Mit letztem Atem erklingt mein Schrei: Du darfst nicht schlafen – es ist nicht vorbei!“ So hieß es in dem norwegischen Gedicht von 1937, „Europa brennt“, das Opsahl vor der Aufführung programmatisch rezitierte.

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Eher eine Zeitreise als ein Highlight der Tanzkunst

Das „Dance On Ensemble“ im Fuldaer Schlosstheater: Auf der leeren schwarzen Bühne agieren drei weiß gekleidete Menschen mit alltäglichen aber schwierigen Bewegungen. Obwohl es nur um pure Schwingungen geht, zerfällt das Trio immer wieder in neue Konstellationen und weckt Fantasien. Etwa zwei gegen einen. Ansonsten Stille, man hört nur Getrappel. Tapp. Tapp. TappTappTapp.  Ein Paar vollführt im zweiten Teil gleichzeitig drehende, hüpfende, tänzerische Aktionen ohne miteinander in Kontakt zu kommen. Ein kalter, unnahbarer Pas de deux. Im dritten Stück vier Umhergehende, Hopsende, sich Umringelnde in diversen Situationen.

Es muss eine Revolution gewesen sein, als diese postmodernen „Silent Works“ der Choreografin Lucinda Childs in den 1970er-Jahren auf die Bühne kamen. Es war die Zeit, als das klassische Ballett erneut radikal infrage gestellt und der Modern Dance wiederbelebt wurde. „Tanz kann alles sein“, forderte zur gleichen Zeit Pina Bausch, die Pionierin des deutschen Tanztheaters – und das zeigen auch diese drei kleinen Werke. 

Die Berliner „Dance On“ Compagnie hatte die, heute etwas verstaubt wirkenden Stücke neu einstudiert, um nach der Pause darauf eine aktuelle Antwort zu geben. Die Erwartungen waren hoch, doch die tänzerische Reaktion auf die historische Herausforderung eher bescheiden. 

Es rappelt und knirscht und kracht. Fünf Personen bewegen sich zu Arbeitsgeräuschen diagonal über die leere Bühne. Eine schüttelt ihre weiß gepulverten Arme. Puder wirbelt auf. Schließlich stauben alle. Später winken einige mit den Händen, geben mit den Armen Zeichen. Wird ein Flugzeug eingewiesen? Werden Lastwagen dirigiert? Ständig changieren die Aktionen zwischen Tanz und Pantomime, kunstvollen und alltäglichen Bewegungen. Schließlich entwickelt die Gruppe sogar gemeinsame spannende Rhythmen, aus der sich hin und wieder Einzelwesen lösen. Manchmal versuchen zwei sich zu umarmen, zu begegnen, aber es gelingt ihnen nur schwer. Hier erleben wir endlich zeitgenössischen Tanz, aber doch in etwas reduzierter Form. Die pantomimischen Anreicherungen wirken läppisch. 

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Die israelische Choreografie „Last Work“ im Hessischen Staatsballett

Am Abend des Überfalls der Hamas-Terroristen auf Israel am 7. Oktober, hatte die Einstudierung der Choreografie „Last Work“ mit dem Ballett des Hessischen Staatstheaters Premiere. Bereits der Titel klingt düster und pessimistisch, sollte dieses dramatische Tanzwerk wirklich die letzte Arbeit des israelischen Choreografen Ohad Naharin in der hessischen Residenz sein? Obwohl er das Stück bereits 2015 für seine Compagnie „Batsheva Dance Company“ entwickelte, wirkt es hochaktuell: sogar bei der vorerst letzten Darmstädter Aufführung nach fünf Wochen Krieg gegen Israel und in diesen Tagen bei der Wiesbadener Premiere.

Natürlich changieren die tänzerischen Darbietungen zwischen freien Bewegungsexperimenten der Tanzenden, die keine festgelegte Bedeutungen haben, und individuellen Assoziationen der Zuschauenden: Man spürt verzweifelte Auseinandersetzungen, Kämpfe und Annäherungen – und natürlich denkt man gerade in diesen Zeiten an Israel. 

Zum Beginn ist das Saallicht noch an, die weiße Bühne hell ausgeleuchtet. Tiefes elektronisches Brummen ertönt. Hinten links rennt eine Tänzerin auf einem Laufband. Plötzlich watschelt ein gebückter Tänzer im Entengang über die Rampe. Das Brummen geht in verzerrte Streicherklänge über. Zitternd, sich verrenkend erscheint ein weiterer Tänzer, der erste verschwindet. Eine sanft agierende Tänzerin weicht ihm aus. Weitere Tänzerinnen oder Tänzer kommen und bewegen sich nacheinander, auch sie vollführen extreme, überdrehte Bewegungen, scheinbar bedeutungslos aber ausdrucksstark. Diese eigenartigen Bewegungsabläufe der Ensemblemitglieder, ihre Tänze, sind kein Selbstzweck – sondern sie wirken irgendwie „alltäglich“, werden aber durch die Tanzenden in einer, durch sie selbst geschaffenen, verfremdeten Wirklichkeit gezeigt.

Später gibt es, meist vergebliche Versuche von Annäherungen

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„Tradition ist nicht das Bewahren der Asche…“

Beinahe ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung, präsentiert ein afrikanisches Tanzensemble die Wiedereinstudierung des “Frühlingsopfers“ von Pina Bausch in Wuppertal. Der Film, der die Erarbeitung des Stückes dokumentiert, erschien jetzt auf DVD.

Aggressive schwarze Tänzer stampfen rhythmisch durch Torf auf dem Bühnenboden. Verzweifelt klammern sich dunkelhäutige Tänzerinnen in weißen Kleidern aneinander, manche winden sich in der Moorerde. Eine der Frauen wird das Opfer und muss sich im roten Kleid zu Tode tanzen… Diese Performance ist kein Als-ob-Theater, die Beteiligten agieren real bis zur völligen Erschöpfung.

Vom Publikum wurde die, bis ins Detail rekonstruierte Choreografie durch die ad hoc gebildete afrikanische Compagnie, frenetisch gefeiert. Bauschs Interpretation der Ballettmusik Igor Strawinskys – in der Tradition des deutschen Ausdruckstanzes – begründete einst den internationalen Ruhm als Pionierin des Tanztheaters und ist bis heute ihr am meisten gespieltes Stück.

Dieses Event ist die erste und exemplarische Kooperation des Wuppertaler Tanztheaters mit der Pina-Bausch-Stiftung ihres Sohnes. 14 Jahre nach dem Tod der Choreografin sind die grotesken Streitereien um ihre Nachfolge überwunden. Der Ausbau des alten Stadttheaters zum Pina-Bausch-Zentrum ist planerisch vollendet, die öffentliche Finanzierung gesichert. Nach einigen Irrwegen sind die Ziele festgelegt: Ihr Werk soll gepflegt, aber ebenfalls neue Wege des Ensembles ermöglicht werden, unter anderem durch die Kooperationen mit Kunstschaffenden aus anderen Bereichen. Die Partizipation des Publikums ist angestrebt, derzeit werden 200 Laien für ein tänzerisches Straßenprojekt gesucht. 

„Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der Flamme.“ Das gilt für das weiterhin gezeigte choreografische Werk der Choreografin. Dessen Themen – was tun Menschen um geliebt zu werden oder der Widerspruch von Nähe und Distanz in der Liebe – sind ja weiterhin hochaktuell. Stets sind die Wuppertaler Vorstellungen ausverkauft und begeistern auch junge Leute. Alljährlich geht die Compagnie auf Welttourneen mit den rekonstruierten Stücken.

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Komm ins Freie nach Darmstadt…

„Komm ins Freie!“ Mit diesem Appell lockt das Darmstädter Staatstheater zu Open-Air-Veranstaltungen. Auch die Tänzerinnen und Tänzer des Staatsballetts machen sich in dieser Woche mit eigenwilligen Darbietungen auf zu einem einstündigen Parcours quer durch die City.

Bereits auf dem Theaterplatz liegen einige bunt bekleidete Figuren stocksteif herum, andere bunt Angezogene hasten am Publikum vorbei, das ihnen in die Stadt folgt. Dort verklumpen sich die Tanzenden zu kleinen Gruppen in freien Körperskulpturen, kauern unter Briefkästen, erobern Balkone oder Vordächer, wickeln sich um Laternenpfähle, hängen an Stangen oder sind in Fahrradständer eingeklemmt. Besonders ulkig ist die Wirkung, wenn sie ihre Hintern in die Luft recken.

Man muss oft lachen auf dieser eigenwilligen Schnitzeljagd, bei der das etwa fünfzigköpfige Publikum untereinander oder mit unbeteiligten Passanten ins Gespräch kommt. Doch manchmal sind die lebenden Bilder im öffentlichen Raum auch verwirrend und beklemmend. Meist findet man sie an abgelegenen oder unauffälligen Orten, es ist erstaunlich, wie viele Lücken, Stangen und eigenartige Plätze es in der City gibt. Natürlich entstehen große Irritationen, wenn Menschen dort in überraschenden akrobatischen Arrangements einfrieren. 

Die ganze Aktion „Bodies in urban space“ (Körper im öffentlichen Raum) ist nicht zufällig und beliebig, sondern wurde vom Choreografen Willi Dorner mit den dreizehn Tänzerinnen und Tänzern erarbeitet. „Alles kann Tanz sein“, proklamierte einst Pina Bausch, die Pionierin des Tanztheaters. Auch hier in Darmstadt sind die körperlichen Eingriffe des Ensembles in den urbanen Raum eine radikale Form des Tanzes – und genauso vergänglich.

Seit 2007 hat Dorner seine Performances in 90 Städten verwirklicht: „Es war in dem Projekt immer mein Anliegen, den Menschen ihre Stadt zu zeigen und Nachdenken über ihre Stadt auszulösen.“

Info:
Nächste und letzte Vorstellung am Freitag 2. Juli 19 Uhr

Fotos:
Hanswerner Kruse

„Aufbruch“ – Zeitgenössischer Tanz zu 100 Jahre Bauhaus und zur Weimarer Nationalversammlung

In diesen Wochen wird in Weimar ein doppelter Aufbruch gefeiert: Vor 100 Jahren erarbeitete im Theater der Stadt die Deutsche Nationalversammlung die erste Verfassung der jungen Republik. Gleichzeitig wurde das bis heute einflussreiche Bauhaus in Weimar gegründet. Zu den Feierlichkeiten gehörte auch der Tanzabend „Aufbruch“ im Nationaltheater.

Wieso entwickeln zwei freie Choreografinnen und ein Choreograf Tänze, um die politischen und kulturellen Geschehen vor einem Jahrhundert zu feiern? Zur angestrebten Synthese bildendender, darstellender und angewandter Kunst gehörten im Bauhaus auch zeitgenössische  Tanzdarbietungen. Im Nationaltheater wurde einst das legendäre Triadische Ballett, mit eigenwilligen starren Kunst-Kostümen, des Bauhaus-Lehrers Oskar Schlemmer uraufgeführt.

In der aktuellen Koproduktion des Nationaltheaters mit dem Stuttgarter Ballett, scheinen sich zwei Choreografien geradewegs auf Schlemmer zu beziehen. Im ersten Stück Katarzyna Kozielskas verkörpert eine Tänzerin die berühmte Tischleuchte Wilhelm Wagenfelds, auf die andere Tanzende anfangs mit ihren, im klassischen Ballett wurzelnden, Figuren reagieren. In den Bewegungen wird die Darstellerin durch die Lampe so bestimmt, wie einst die steifen Kostüme Schlemmers den Ausdruck der Akteure bestimmten. Auch lange Stoffbahnen, die gerne im Bauhaus gewebt wurden, behindern und verwickeln die Tanzenden, aus denen sie von anderen Akteuren wieder befreit werden.

Im nächsten Stück Edward Clugs verändern sich auf der strengen weißen Bühne die zackigen Bewegungsabläufe der Tänzerinnen und Tänzer zunächst nur minimalistisch – wie in der sie begleitenden Minimal Musik Steve Reichs die Klänge. Dann scheint es, als zwängten ihnen – unsichtbare sperrige Kostüme des Triadischen Balletts – eckige, fast roboterhafte Bewegungen auf. Jedoch geschehen auch kurze erzählende oder humorvolle Ausbrüche, der wie Schaufensterpuppen wirkenden Akteure. Weiterlesen

Sasha Waltz – Grenzgänge der Tanzkünstlerin

Im letzten Vierteljahrhundert wurde Sasha Waltz (56) zur innovativsten Tanzkünstlerin Europas. Mit ihrem Ensemble „Sasha Waltz & Guests“ entwickelte sie zuerst das zeitgenössische Tanztheater weiter. Doch sie überwand nicht nur die Grenzen dieses jungen Genres, sondern auch zur Oper und bildenden Kunst.

Aus ihren Bewegungen heraus singt eine Sopranistin. An Mauervorsprüngen hängen lebendige Menschen. Hände greifen aus Wänden nach Tänzern. In einem riesigen Aquarium schwimmen Tänzerinnen. Es sind erstaunliche Bilder und absonderliche Geschichten, die Waltz dem Publikum zeigt, doch die sind nicht als erzählende Dramen geplant. Die Basis ihrer Stücke sind Orte, die sie mit ihrer Compagnie körperlich erkundet:

„Ich denke an Raum, noch bevor ich an Bewegung denke.“

Im Jahr 2000 war ihre Co-Intendanz mit dem Theater-Regisseur Thomas Ostermeier in der legendären Berliner Schaubühne eine Wende. Hier hatte sie zum ersten Mal – für das Stück „Körper“ – Gelegenheit auf einer gigantischen Bühne zu arbeiten. „Dadurch, dass ich in diesen Raum gegangen bin, hat sich etwas anderes, Neues entwickelt.“

Einige Zeit nach dem Zerbrechen der fünfjährigen Kooperation mit Ostermeier hinderte eine Erschöpfungsdepression sie ein Jahr lang am Arbeiten. Bald darauf, 2009, bespielte sie mit ihrem Ensemble das umgebaute, noch leere Neue Museum in Berlin, im Jahr darauf das römische Museum MAXXI vor dessen Eröffnung. Mit diesem völlig neuen Genre führte sie ihre „Dialoge“ weiter, bei denen sie bereits große leere Räume tanzend erforschte und darüber mit dem Publikum ins Gespräch kam. Waltz arbeitet gerne mit anderen Künstlern, mit Gästen, zusammen, daher der Name ihrer Compagnie:

„Ich habe schon immer den Austausch gebraucht, das Gemeinsame und Lebendige.“

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Sasha Waltz – neue Stücke 2017

Beim letzten Berliner Tanz-Festival im Spätsommer präsentierte Sasha Waltz nach langer Pause neues Tanztheater: Die Uraufführung ihres Frauenstücks „Women“ sowie die Choreografie „Kreatur“

Eine puschelige „Kreatur“ erscheint auf der fast dunklen Bühne, langsam kommen weitere in Draht versponnene Wesen dazu. In den Kostümskulpturen verbergen sich nackte Tänzerinnen, flüsternd und wispernd nehmen sie Kontakt auf. Plötzlich bewegen sich zwischen ihnen normale Tanzende mit verlangsamten, kaum noch menschlichen Bewegungen. Später rottet sich das Ensemble bei Techno-Beat zusammen, manche brechen aus den kollektiven Tänzen aus. Sie individualisieren sich mit heftigen Bewegungen, doch schnell kehren sie zurück. In weiteren Szenen frieren sie immerzu in kurzen lebenden Bildern ein – verkörpern Liebe, Zorn, Verzweiflung.

Die Gefühle sind nicht gespielt, eine Rothaarige wird bis zur völligen Erschöpfung gejagt. Die Compagnie mimt keine Dramen, sondern mit fremdartigen Bewegungen und getanzten Erzählfragmenten schafft es eine eigene Wirklichkeit. Zum Ausklang taucht eine düstere stachelige Gestalt auf, bedroht die Tanzenden, scheint aber auch in sich selbst gefangen. Doch das Stück endet skurril – zu gehauchten Liebesschwüren von „Je t’aime“ küssen sich Tänzer oder begrapschen nackte Brüste der Tänzerinnen, die wiederum peitschen Tänzer mit ihren Haaren aus.

In „Women“ geht es natürlich um Frauen, wie der englische Titel nahelegt. In einer entkernten Kirche sitzt das Publikum im Kreis auf dem Boden. 19 Tänzerinnen erkunden weibliche Klischees, zelebrieren später pathetische Frauenrituale, die sogleich wieder durch enthemmte Tänze gebrochen werden. Weiterlesen