„glue light blue“ 

Eine eindringliche Gastchoreografie des Israelis Nadav Zechner mit dem Hessischen Staatsballett

Tanzfrühling in Hessen. In Darmstadt ist nicht nur der Himmel hellblau, sondern auch der Tanz. Die offene Bühne hat einen blau-glänzenden Boden, auf ihr zappeln bereits 35 geometrisch angeordnete Steinbrocken an Drahtseilen, als das Publikum den Saal betritt. An den Bühnenwänden hängen hellblau und rostbraun eigefärbte Platten. 

Dann wird es dunkel. Dampf steigt auf. Tiefes Grummeln ertönt, die ganze erste Tanzphase lang. Eine sehr künstlich wirkende, blau gekleidete Figur mit rostbraunem Ornat taucht aus einer Luke auf, tanzt am Bühnenrad zunächst nur mit den Augen, dann mit zitternden eigenartigen Bewegungen. Weitere, ebenso bekleidete Tänzerinnen und Tänzer, erscheinen nach und nach aus dem Nebel, bewegen sich akkurat und gradlinig zwischen den Steinen.

Irgendwann hört das Gegrummel auf, das Ensemble streift die Ornate ab, alle werden zu kommunikationsfreudigen hellblauen Wesen mit rostbraunen Beinen. Ihre Bewegungen verflüssigen sich, sie entfliehen der Strenge, blubbern gelegentlich wie Kleinkinder. Paare begegnen sich, mal agieren sie zusammen in exotischen, mal in alltäglichen Pas de deux. Zuweilen frieren sie an den Wänden ein, verschmelzen dann gleichsam mit dem Hintergrund. Ihre Annäherungen verändern sich unaufhörlich. Blitzschnell. Eben noch freundlich. Dann skurril. Abweisend. Fröhlich. Kurz beginnen immer neue Erzählungen, brechen wieder und wieder ab oder verändern sich.

Zu rhythmisch-arabischer Musik finden sich zwei Gruppierungen, die Brocken werden in die Höhe gezogen, wirken wie Lampen. Darunter beginnen wilde fröhliche Tänze – und die Steine tanzen mit. Sie gehen rauf und runter, hängen bedrohlich über der liegenden Compagnie. Doch heiter befreien sich die Tanzenden. Die Brocken verschwinden in der Höhe. Etliche Figuren hopsen munter in die Luke am Ende der Bühne.

Zwei Frauen winden sich am Boden, küssen sich in die Vertikale, verknoten sich zu einem hocherotischen Pas de deux, lösen sich irgendwann voneinander. Wassergeplätscher ertönt, erst finden sich weitere Paare, dann die ganze achtzehnköpfige Compagnie in immer neuen Bewegungsbildern zusammen.

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Tanztheater „Europa brennt“

„Europa brennt!“ Das neue Stück der Compagnie Artodance ist keine durchgehende Erzählung, sondern eine Collage aus assoziativen Bewegungsbildern und Tanzszenen. Die Kulturpreisträgern des Main-Kinzig-Kreises, Monica Opsahl, präsentierte ihre Choreografie zur derzeitigen Situation in Europa, im Rahmen der KulturWerk-Woche 2024 in Schlüchtern.

Dramatisch beginnt das Tanztheater mit Flackerlicht, Schüssen und Explosionen im Hintergrund. Ein verzerrtes Cello intoniert die Europahymne, die „Ode an die Freude“, mit strengen soldatischen oder getriebenen Bewegungen ziehen drei Tänzerinnen über die Bühne. Plötzlich werden sie von zwei maskierten Kriegerinnen mit Maschinenpistolen bedroht, sie haben Angst, unterwerfen sich – doch sie versuchen auch sich zu wehren, gemeinsam gegen die Eindringlinge zu erheben.

Kreischige, tiefdröhnende Klänge fahren in den Bauch und machen die Tanzenden mutiger. Momente der Empörung und Abwehr, bis alle Beteiligten zu Boden sinken, während die Deutschlandhymne angespielt wird. Später drücken Einzelne mit eindringlichen stummen Schreien ihren Schmerz, ihre Trauer, ihre Leiden aus. Eine fällt um, wird von den anderen getragen, eine Stürzende wird aufgefangen und weitergereicht. In der Verzweiflung gibt es zu sanften Tönen immer wieder berührende Szenen mit Kontakt, Beistand, Verbundenheit. Vertieft wird die intensive Anmutung der Tänzerinnen für das Publikum, durch die hervorragende Licht- und Klanggestaltung (Arnold Pfeifer). 

Im zweiten Teil des Abends, die Frauen sind jetzt verschrobener alltäglich gekleidet, geht es abstrakter zu: Sie tanzen das Leben – begegnen sich, schaffen Distanz und Nähe, holen Ausreißerinnen zurück, werden auseinandergerissen. Zwischendurch frieren sie zu eigenartigen Menschenskulpturen ein, sind sie Überlebende? Um Rettung Kämpfende? Denn die Bedrohung ist nicht vorbei, das Draußen erreicht auch die KulturWerk-Halle. Das Schlussbild im Nebel, zu „alle Menschen werden Brüder“, ist sanft und versöhnlich. Jedoch der Tanzabend ist kein Traum. „Mit letztem Atem erklingt mein Schrei: Du darfst nicht schlafen – es ist nicht vorbei!“ So hieß es in dem norwegischen Gedicht von 1937, „Europa brennt“, das Opsahl vor der Aufführung programmatisch rezitierte.

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Eher eine Zeitreise als ein Highlight der Tanzkunst

Das „Dance On Ensemble“ im Fuldaer Schlosstheater: Auf der leeren schwarzen Bühne agieren drei weiß gekleidete Menschen mit alltäglichen aber schwierigen Bewegungen. Obwohl es nur um pure Schwingungen geht, zerfällt das Trio immer wieder in neue Konstellationen und weckt Fantasien. Etwa zwei gegen einen. Ansonsten Stille, man hört nur Getrappel. Tapp. Tapp. TappTappTapp.  Ein Paar vollführt im zweiten Teil gleichzeitig drehende, hüpfende, tänzerische Aktionen ohne miteinander in Kontakt zu kommen. Ein kalter, unnahbarer Pas de deux. Im dritten Stück vier Umhergehende, Hopsende, sich Umringelnde in diversen Situationen.

Es muss eine Revolution gewesen sein, als diese postmodernen „Silent Works“ der Choreografin Lucinda Childs in den 1970er-Jahren auf die Bühne kamen. Es war die Zeit, als das klassische Ballett erneut radikal infrage gestellt und der Modern Dance wiederbelebt wurde. „Tanz kann alles sein“, forderte zur gleichen Zeit Pina Bausch, die Pionierin des deutschen Tanztheaters – und das zeigen auch diese drei kleinen Werke. 

Die Berliner „Dance On“ Compagnie hatte die, heute etwas verstaubt wirkenden Stücke neu einstudiert, um nach der Pause darauf eine aktuelle Antwort zu geben. Die Erwartungen waren hoch, doch die tänzerische Reaktion auf die historische Herausforderung eher bescheiden. 

Es rappelt und knirscht und kracht. Fünf Personen bewegen sich zu Arbeitsgeräuschen diagonal über die leere Bühne. Eine schüttelt ihre weiß gepulverten Arme. Puder wirbelt auf. Schließlich stauben alle. Später winken einige mit den Händen, geben mit den Armen Zeichen. Wird ein Flugzeug eingewiesen? Werden Lastwagen dirigiert? Ständig changieren die Aktionen zwischen Tanz und Pantomime, kunstvollen und alltäglichen Bewegungen. Schließlich entwickelt die Gruppe sogar gemeinsame spannende Rhythmen, aus der sich hin und wieder Einzelwesen lösen. Manchmal versuchen zwei sich zu umarmen, zu begegnen, aber es gelingt ihnen nur schwer. Hier erleben wir endlich zeitgenössischen Tanz, aber doch in etwas reduzierter Form. Die pantomimischen Anreicherungen wirken läppisch. 

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Die israelische Choreografie „Last Work“ im Hessischen Staatsballett

Am Abend des Überfalls der Hamas-Terroristen auf Israel am 7. Oktober, hatte die Einstudierung der Choreografie „Last Work“ mit dem Ballett des Hessischen Staatstheaters Premiere. Bereits der Titel klingt düster und pessimistisch, sollte dieses dramatische Tanzwerk wirklich die letzte Arbeit des israelischen Choreografen Ohad Naharin in der hessischen Residenz sein? Obwohl er das Stück bereits 2015 für seine Compagnie „Batsheva Dance Company“ entwickelte, wirkt es hochaktuell: sogar bei der vorerst letzten Darmstädter Aufführung nach fünf Wochen Krieg gegen Israel und in diesen Tagen bei der Wiesbadener Premiere.

Natürlich changieren die tänzerischen Darbietungen zwischen freien Bewegungsexperimenten der Tanzenden, die keine festgelegte Bedeutungen haben, und individuellen Assoziationen der Zuschauenden: Man spürt verzweifelte Auseinandersetzungen, Kämpfe und Annäherungen – und natürlich denkt man gerade in diesen Zeiten an Israel. 

Zum Beginn ist das Saallicht noch an, die weiße Bühne hell ausgeleuchtet. Tiefes elektronisches Brummen ertönt. Hinten links rennt eine Tänzerin auf einem Laufband. Plötzlich watschelt ein gebückter Tänzer im Entengang über die Rampe. Das Brummen geht in verzerrte Streicherklänge über. Zitternd, sich verrenkend erscheint ein weiterer Tänzer, der erste verschwindet. Eine sanft agierende Tänzerin weicht ihm aus. Weitere Tänzerinnen oder Tänzer kommen und bewegen sich nacheinander, auch sie vollführen extreme, überdrehte Bewegungen, scheinbar bedeutungslos aber ausdrucksstark. Diese eigenartigen Bewegungsabläufe der Ensemblemitglieder, ihre Tänze, sind kein Selbstzweck – sondern sie wirken irgendwie „alltäglich“, werden aber durch die Tanzenden in einer, durch sie selbst geschaffenen, verfremdeten Wirklichkeit gezeigt.

Später gibt es, meist vergebliche Versuche von Annäherungen

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„Tradition ist nicht das Bewahren der Asche…“

Beinahe ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung, präsentiert ein afrikanisches Tanzensemble die Wiedereinstudierung des “Frühlingsopfers“ von Pina Bausch in Wuppertal. Der Film, der die Erarbeitung des Stückes dokumentiert, erschien jetzt auf DVD.

Aggressive schwarze Tänzer stampfen rhythmisch durch Torf auf dem Bühnenboden. Verzweifelt klammern sich dunkelhäutige Tänzerinnen in weißen Kleidern aneinander, manche winden sich in der Moorerde. Eine der Frauen wird das Opfer und muss sich im roten Kleid zu Tode tanzen… Diese Performance ist kein Als-ob-Theater, die Beteiligten agieren real bis zur völligen Erschöpfung.

Vom Publikum wurde die, bis ins Detail rekonstruierte Choreografie durch die ad hoc gebildete afrikanische Compagnie, frenetisch gefeiert. Bauschs Interpretation der Ballettmusik Igor Strawinskys – in der Tradition des deutschen Ausdruckstanzes – begründete einst den internationalen Ruhm als Pionierin des Tanztheaters und ist bis heute ihr am meisten gespieltes Stück.

Dieses Event ist die erste und exemplarische Kooperation des Wuppertaler Tanztheaters mit der Pina-Bausch-Stiftung ihres Sohnes. 14 Jahre nach dem Tod der Choreografin sind die grotesken Streitereien um ihre Nachfolge überwunden. Der Ausbau des alten Stadttheaters zum Pina-Bausch-Zentrum ist planerisch vollendet, die öffentliche Finanzierung gesichert. Nach einigen Irrwegen sind die Ziele festgelegt: Ihr Werk soll gepflegt, aber ebenfalls neue Wege des Ensembles ermöglicht werden, unter anderem durch die Kooperationen mit Kunstschaffenden aus anderen Bereichen. Die Partizipation des Publikums ist angestrebt, derzeit werden 200 Laien für ein tänzerisches Straßenprojekt gesucht. 

„Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der Flamme.“ Das gilt für das weiterhin gezeigte choreografische Werk der Choreografin. Dessen Themen – was tun Menschen um geliebt zu werden oder der Widerspruch von Nähe und Distanz in der Liebe – sind ja weiterhin hochaktuell. Stets sind die Wuppertaler Vorstellungen ausverkauft und begeistern auch junge Leute. Alljährlich geht die Compagnie auf Welttourneen mit den rekonstruierten Stücken.

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Same, same but different…

Neue Wege des Tanztheaters Pina Bausch
Beinahe ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung, zelebriert ein afrikanisches Tanzensemble kraftvoll die Wiedereinstudierung des “Frühlingsopfers“ von Pina Bausch in Wuppertal.

Aggressive schwarze Tänzer stampfen rhythmisch durch Torf auf
dem Bühnenboden. Verzweifelt klammern sich dunkelhäutige Tänzerinnen in weißen Kleidern aneinander, manche winden sich in der Moorerde. Eine der Frauen wird das Opfer und muss sich im roten Kleid zu Tode tanzen… Diese Performance ist kein Als-ob-Theater, die Beteiligten agieren real bis zur Erschöpfung.

Ende Januar wurde die, bis ins Detail rekonstruierte Choreografie durch die ad hoc gebildete afrikanische Compagnie, vom Publikum frenetisch gefeiert. Pina Bauschs Interpretation der Ballettmusik Igor Strawinskys – in der Tradition des deutschen Ausdruckstanzes – begründete ihren internationalen Ruhm als Pionierin des Tanztheaters und ist bis heute ihr am meisten gespieltes Stück.

Dieses Event – mit einer weiteren Darbietung der Wuppertaler Compagnie „Café Müller“ (Foto links) und dem Duo einer jeweils sehr alten weißen und schwarzen Tänzerin „common ground“ (Foto rechts) – ist die erste und vor allem exemplarische Kooperation des Tanztheaters mit der Pina-Bausch-Stiftung. 14 Jahre nach dem Tod der Choreografin sind die grotesken Streitereien um ihre Nachfolge überwunden. Der Ausbau des alten Stadttheaters zum Pina-Bausch- Zentrum, unter anderem mit fester Spielstätte für die Truppe und ihrem Archiv, ist planerisch vollendet, die öffentliche Finanzierung gesichert.

Nach einigen Irrwegen sind die Ziele festgelegt, das Werk soll gepflegt und erhalten, aber ebenfalls neue Wege des Ensembles ermöglicht werden. Dazu sind Kooperationen mit Kunstschaffenden aus anderen Bereichen – wie Architektur, Film oder Bildender Kunst – vorgesehen. Eine stärkere Partizipation des Publikums ist angestrebt: Derzeit werden 200 Laien für ein tänzerisches Straßenprojekt in der Stadt gesucht, das der neue Intendant Boris Charmatz initiiert.

„Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der Flamme.“ Das wurde exemplarisch an demTanzabend deutlich und gilt für das gesamte, weiterhin gezeigte choreografische Werk der Pina Bausch. Alljährlich geht die Compagnie auf Welttourneen mit alten Stücken. Deren Themen – etwa was tun Menschen um geliebt zu werden oder der Widerspruch von Nähe und Distanz in der Liebe – sind weiterhin hochaktuell. Stets sind die Wuppertaler Vorstellungen ausverkauft und werden auch von jungen Leuten gefeiert. Viele der Neuen, die in den aufgefrischten Choreografien tanzen, kennen Pina Bausch gar nicht mehr. Ehemalige Ensemblemitglieder ermöglichen durch ihre Mitarbeit die präzise „Rollenweitergabe“:

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Die hocherotische Wildsau…

Mit einer modernen Musical-Version des Märchens „Das tapfere Schneiderlein“ begannen die 37. Brüder-Grimm-Festspiele in Hanau. Nachdem der Handwerker sieben Fliegen erschlug („sieben auf einen Streich“), erkämpfte er sich listig ein halbes Königreich und die Prinzessin.

Die Königstochter spielt in den diversen alten Fassungen des Märchens keine Rolle und wird nur verheiratet, hier ist sie eine kritische und nachdenkliche junge Frau. Ständig hat sie ein Buch in der Hand, kocht gerne und wehrt sich gegen das Korsett, in das sie gezwängt wird: „Mich fragt keiner. Ich werde zu allem nicht schweigen, ihr werdet mich hören“, singt sie. Das Schneiderlein ist kein aufgeblasener Angeber, sondern will sich nicht länger schurigeln lassen und aus der Enge seines Dorfes heraus. Dem Helden hilft ein blauer Vogel die Riesen zu besiegen und geschickt andere Prüfungen zu bestehen. 

„Das Volk“ – meistens Frauen – tanzt, singt, kommentiert die Handlung und treibt sie dadurch voran. Durch diese Erneuerungen sowie musikalische Einlagen der Live-Band und Gesänge der Akteure, wird das aktualisierte Märchen sehr abwechslungsreich. Fantastisch das sich ständig verändernde Bühnenbild auf mehreren, sich drehenden Ebenen, dadurch fließen viele Szenen ineinander oder geschehen parallel. 

Das Stück beginnt etwas behäbig, doch schnell bekommt es durch die Tänze der Fliegen, später die choreografierten Kämpfe des Schneiders weitere traumartige Dimensionen: Die vom Helden zu fangende Wildsau ist hocherotisch und tanzt mit Maissträuchern. Der Kampf und schließlich das Arrangement mit dem Einhorn ist eine surreale Choreografie. Die tölpelhaften Riesen sind ein skurriles, wirklich riesiges Paar. Wechselnde farbige Lichtspiele sorgen immer wieder für unterschiedliche Stimmungen.

Die Frauen spielen eine große Rolle in dem Stück, selbstbewusst und kämpferisch wie in unserer Zeit, sind sie nicht länger Objekte männlicher Dominanz. Nicht nur die Prinzessin wehrt sich gegen die höfischen Konventionen, auch dem König wird „das Hierarchische“ manchmal zu viel. Der Schneider kämpft tapfer gegen die korrupte Welt des Adels und fordert seine Rechte, er siegt als Schwacher gegen die Starken oder Überlegenen: sei es gegen die Riesen oder den selbstgefälligen Baron, der mit Betrug versucht die Königstochter für sich zu gewinnen.  Doch am Ende erkennt auch der Handwerker, dass er durch sein Auftreten nicht er selbst werden konnte.

Zwei Aspekte sind wieder einmal bedeutsam: Märchen sind nicht nur etwas für Kinder, das tapfere Schneiderlein wird durchaus zum Erwachsenenstück. Und sie sollten sich erneuern, die Weiterentwicklung der in der Romantik eingefrorenen Erzählungen ist stimmig. Die Inszenierung ist manchmal auch humorvoll und derb – allerdings ohne peinliche Possen.

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Komm ins Freie nach Darmstadt…

„Komm ins Freie!“ Mit diesem Appell lockt das Darmstädter Staatstheater zu Open-Air-Veranstaltungen. Auch die Tänzerinnen und Tänzer des Staatsballetts machen sich in dieser Woche mit eigenwilligen Darbietungen auf zu einem einstündigen Parcours quer durch die City.

Bereits auf dem Theaterplatz liegen einige bunt bekleidete Figuren stocksteif herum, andere bunt Angezogene hasten am Publikum vorbei, das ihnen in die Stadt folgt. Dort verklumpen sich die Tanzenden zu kleinen Gruppen in freien Körperskulpturen, kauern unter Briefkästen, erobern Balkone oder Vordächer, wickeln sich um Laternenpfähle, hängen an Stangen oder sind in Fahrradständer eingeklemmt. Besonders ulkig ist die Wirkung, wenn sie ihre Hintern in die Luft recken.

Man muss oft lachen auf dieser eigenwilligen Schnitzeljagd, bei der das etwa fünfzigköpfige Publikum untereinander oder mit unbeteiligten Passanten ins Gespräch kommt. Doch manchmal sind die lebenden Bilder im öffentlichen Raum auch verwirrend und beklemmend. Meist findet man sie an abgelegenen oder unauffälligen Orten, es ist erstaunlich, wie viele Lücken, Stangen und eigenartige Plätze es in der City gibt. Natürlich entstehen große Irritationen, wenn Menschen dort in überraschenden akrobatischen Arrangements einfrieren. 

Die ganze Aktion „Bodies in urban space“ (Körper im öffentlichen Raum) ist nicht zufällig und beliebig, sondern wurde vom Choreografen Willi Dorner mit den dreizehn Tänzerinnen und Tänzern erarbeitet. „Alles kann Tanz sein“, proklamierte einst Pina Bausch, die Pionierin des Tanztheaters. Auch hier in Darmstadt sind die körperlichen Eingriffe des Ensembles in den urbanen Raum eine radikale Form des Tanzes – und genauso vergänglich.

Seit 2007 hat Dorner seine Performances in 90 Städten verwirklicht: „Es war in dem Projekt immer mein Anliegen, den Menschen ihre Stadt zu zeigen und Nachdenken über ihre Stadt auszulösen.“

Info:
Nächste und letzte Vorstellung am Freitag 2. Juli 19 Uhr

Fotos:
Hanswerner Kruse

„Kreationen“ – Tanzfrühling in Hessen (3)

Zwei Gastchoreografen haben mit dem Hessischen Staatsballett jeweils ein neues Tanzstück erarbeitet. Unter dem Titel „Kreationen“ werden die beiden hervorragenden Arbeiten in Darmstadt und Wiesbaden präsentiert.

Der Slapstick gleich zu Beginn der ersten Choreografie ist emblematisch für den gesamten Abend: Ein Mann steht vor dem Zwischenvorhang und pfeift ein Lied. Dann folgt ein Spot auf den Gitarrenspieler in einer Badewanne, der nicht nur das Wasser aus seinem Instrument schüttet, sondern sich auch akrobatisch aus der Umklammerung des Zubers zu befreien sucht.

Auch wenn der Abend gelegentlich recht düster wird, scheint der Prolog zu signalisieren: Hey Leute, nehmt uns nicht so ernst. Das gilt besonders für die zweite Tanzarbeit Jeroen Verbruggens „The Great Trust“. In einer riesigen Mauer qualmt es aus einem Loch, durch das wohl gerade eine Rakete gezischt ist. Auf der verqualmten Bühne lagern Krankenschwestern und Clowns, zwischen denen ein hysterischer Zirkusdirektor herumspringt. Nach und nach beginnen diese Figuren mit staksigen Bewegungen närrische Tänze, verrenken sich akrobatisch oder gebärden sich steif wie Puppen.

Die postapokalyptische Gesellschaft wird uns als clowneskes Tanztheater vorgeführt – doch wir sind eher im Kino als im Ballettsaal: Wie in einem surrealen Film lässt die Compagnie teils albtraumartige, teils groteske Bilder aufscheinen, die bedrückende Wirklichkeit wird darin verlacht. Schließlich wird der Weltuntergang poppig zugekleistert, im Mauerloch singen drei Clowninnen „Schubiduba. Again and again!“ Eine Marylin Monroe zelebriert mit einem Furry (einem Mann im Teddykostüm) den Pas de Deux und zuletzt hüpft das Ensemble mit Springseilen über die Bühne.

Auch im ersten Teil des Abends beherrscht eine riesige Mauer die Bühne, das wohl einzig Verbindende zwischen den zwei Stücken. Was bei Verbruggen lustvoll als  apokalyptischer Zirkus präsentiert wird, wirkt vorher in Alejandro Cerrudos „Now and Then“ wesentlich strenger. Der Choreograf arbeitet intensiv mit der Beleuchtung, die androgyn gekleideten Tanzenden wirken oft wie Schattenwesen, die spannende Lichtbilder kreieren.  Auch hier ist die Welt in Unruhe, die Menschen rennen gegen die Mauer an, aus synchronen Bewegungsmustern brechen Einzelne ständig aus. Weiterlesen

„Code“ – Tanzfrühling in Hessen (2)

„Code“ – eine experimentelle Choreografie und eine Kammeroper mit Neuer Musik

Jetzt im Frühjahr kommen etliche neue, teils experimentelle Stücke auf hessische Tanzbühnen. Sie werden vor allem von jungen Choreografen inszeniert, die sich mit der Apokalypse oder den Bedrohungen durch künstliche Intelligenz auseinandersetzen. Einen Anfang machte der zweiteilige Abend „Code“ in Darmstadt.

Das kleine Darmstädter Kammertheater wirkt durch die Beleuchtung wie eine Verlängerung des unterirdischen Parkhauses gleich nebenan. Zu düsteren Klangcollagen drängen Tänzerinnen und Tänzer mit Luftschläuchen und in Kampfkleidung herein. Sie rotten sich zusammen und nehmen schließlich mit befremdenden Bewegungen die Bühne ein. Gelegentlich werden in ihren bizarren, nennen wir sie ruhig: Tänzen, klassische Ballettfiguren zitiert. Ein Liebespaar, verstrickt in zahllose Gürtel und Bänder mit Schnallen, wird auf einer Rampe präsentiert und versucht sich, bei plötzlich süßlicher Musik, im traditionellen Pas de Deux zu lieben. Bald rebelliert das Paar gegen die bedrohlich herandrängenden Voyeure, befreit sich von seinen Fesseln und kommt in Schlüpfern und Sport-BH erneut zum Liebestanz zusammen. Ein etwas unbeholfener Schluss in Unterwäsche, den jedoch das Darmstädter Publikum heftig bejubelt. Dieses Tanzstück „Love Radioactive“ im zweiten Teil des Abends wurde von Ramon Johns, einem Tänzer des Staatsballetts, für einige seiner Ensemblemitglieder choreografiert.

Wesentlich experimentierfreudiger und überzeugender ist dagegen die Uraufführung der Kammeroper „EvE & Adinn“ von Sivan Cohen Elias: Doktor Green, eine Art digital arbeitender Doktor Frankenstein, schuf das Wesen EvE, eine künstliche Intelligenz, die abgeschirmt hinter Firewalls und Sicherungssystemen in seinem Laboratorium gehalten wird. Sie glaubt, sie sei eine lebende Person, darf jedoch nicht auf die Menschheit losgelassen werden, weil sich ihre Intelligenz ständig dramatisch erhöht. Zu radikalen Klängen Neuer Musik und schrillen Gesangsfetzen entführen Musiker und Vokalisten des Staatstheaters das Publikum quasi in eine elektronische Büchse der Pandora, die man nicht öffnen darf. Dazu bewegt sich Aki Hashimoto, die vielseitige Sängerin und Performerin, als EvE oft wie eine theatralische Tänzerin. Auch wenn die Handlung insgesamt unklar bleibt, präsentiert Regisseurin Corinna Tetzel ein spannendes Gesamtkunstwerk. An dessen Ende bleibt Pandoras Dose zum Glück ungeöffnet… Weiterlesen