„En Masse“ im Staatstheater Darmstadt

In der diesjährigen Gastspielreihe zum Ende der Spielzeit verwandelte sich das Staatstheater Darmstadt zur Bühne für zeitgenössische Zirkuskunst. Zwei australische Compagnien und einige regionale Initiativen wollten den hohen Anspruch realisieren: „Die Grenzen zwischen Tanz, Theater, Musik und Akrobatik neu (!) definieren.“ Wir besuchten die Choreografien „En Masse“ des Ensembles „Circa“, das mit seinen Mitteln Schuberts „Winterreise“ und Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ präsentierte. Zwei Werke, an denen sich seit Jahrzehnten die Tanzszene misst.

Neun Gestalten liegen vor dem geschlossenen Bühnenvorhang. Schuberts Wanderer aus der „Winterreise“ stimmt ein unverständliches Lied an – aber nicht das gewohnte „Fremd bin ich eingezogen…“ Langsam kriechen und schlängeln sich die Liegenden hinter den Vorhang, nur eine Tänzerin umgarnt, bedrängt, umschlingt den Tenor.

Knarzen. Geknatter. Dröhnen – eine Kakophonie elektronischer Klänge. Der Vorhang hebt sich, die Figuren sind in ein durchsichtiges Plastikzelt eingeschlossen. Wieder erklingt ein akustisch nicht zu verstehendes Lied aus Schuberts „Winterreise“. Im Zelt winden sich Menschen ineinander und übereinander. Rotten sich zusammen. Stemmen einander waghalsig hoch. Recken sich nach oben. Paare umklammern sich. Vielleicht ist es die Gesellschaft, von der sich der Wanderer abkehrt – oder seine eigenen Erinnerungen?

Nach einem weiteren elektronischen Einschub ertönen erneut Schubert-Klänge. Auf der nun leeren Bühne läuft ein Einzelner über zusammen gerottete Körper. Dann ringen viele plötzlich athletisch miteinander. Drei Figuren stehen halsbrecherisch aufeinander. Mühsam halten sie das Gleichgewicht. Eine tappt auf Spitzen mit grotesken Bewegungen durchs Bild. Dann hören wir den „Leiermann“, das Schlusslied. Doch die Musik wechselt weiter zwischen den Schubertklängen und elektronischen Tönen. Zum eigentlichen Anfangslied „Fremd bin ich eingezogen…“  kämpfen Paare wild und ungezähmt miteinander. Doch das Ende lässt immer noch auf sich warten. 

Mal erleben wir in den 12 Szenen Akrobatik pur, dann wieder bewegende Bilder einsamer Menschen. Annäherungen von Paaren. Ausgrenzungen oder Integration durch die Gemeinschaft. Die Compagnie zeigt eine zerrupfte Version der „Winterreise“.

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Staatsballett Berlin: „Winterreise“

Noch bevor die Musik beginnt, stakst ein Wanderer mit weiten, grotesken Bewegungen über die Bühne. Der zusammengeknäulte Schwarm schwarzer Gestalten erwacht langsam, synchron. Am Rand steht starr eine Frau, die mit verbundenen Augen einen Raben hält. Dann erklingt das bewegende Lied: „Fremd bin ich eingezogen / Fremd zieh‘ ich wieder aus.“ 

Mit diesen klagenden Worten des Dichters Wilhelm Müller beginnen die Gesänge der „Winterreise“. Bereits darin verdichtet sich das gesamte Thema von Verlassenheit und sozialer Kälte. Die neue Aufführung im Berliner Staatsballett ist jedoch die zeitgenössische Interpretation dieser romantischen Verse. Es sind nicht die wohlklingenden Sologesänge des Wanderers zu Franz Schuberts Klavierklängen zu hören, obwohl er in seiner Zeit heftig umstritten war. Stattdessen erleben wir die krasse Version des Komponisten Hans Zender aus dem Jahr 1993, komponiert für Tenor und kleines Orchester. Dazu tanzt das Berliner Staatsballett Assoziationen zu den 24 Gedichten Müllers.

Zenders „komponierte Interpretation“ greift auf das gesamte Spektrum neoromantischer und moderner Klänge zurück – bis zur Neuen Musik, ergänzt um alltägliche und exotische Geräusche. Tenor Matthew Newlin beherrscht die von Zender geforderten sanften oder kräftigen Gesänge ebenso wie Sprechgesang und groteske Stimmspiele. Das alles sollte man wissen – denn natürlich wirken auch die Choreografien zu den 24 Gedichten sehr zeitgemäß. Sie changieren zwischen modernem Ballett und aktuellem Tanztheater. Choreograf Christian Spuck wollte die Dichtungen nicht tänzerisch illustrieren, sondern vielmehr das Innere des einsamen und traurigen Wanderers in der rauen Natur zeigen. Er hat großes Interesse an verrätselten und abstrakten Tanzbildern.

Man weiß nicht genau was dem Protagonisten der „Winterreise“ widerfahren ist – offenbar hat die Geliebte ihn verlassen müssen. Nun streift er ziellos durch die kalte Welt, in jener verträumten Haltung, mit der die Romantiker das Wandern als Selbstzweck verklärten. Bereits in den ersten Szenen wird das deutlich, die nun durchgehend zu eigenen Assoziationen herausfordern. 
Freie, häufig rätselhafte Bilder ziehen sich durch alle Szenen, bis das Werk eineinhalb Stunden später mit dem gesamten, fast nackt wirkenden Ensemble endet.

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Berliner Theatertreffen 2025: „Kontakthof Echoes of ‘78“ von Meryl Tankard

Fünf Tänzerinnen, vier Tänzer sind übriggeblieben und begegnen sich in der Choreografie „Kontakthof Echoes of ‘78“ nach Pina Bausch von Meryl Tankard. Alt sind sie geworden, denn vor 46 Jahren gehörten sie zur Erstbesetzung dieses legendären Stücks. Doch nach wie vor sind sie einsam, flirten oder zanken sich – untereinander oder mit imaginären Gegenübern. Sie bieten sich an, zeigen ihre Körperteile, demonstrieren, was sie so können, begutachten die anderen, nähern sich an und quälen einander. 

Ihr „Kontakthof“ ist kein Raum für käufliche Liebe im engeren Sinne, sondern der Sehnsuchtsort dieser Menschen: Sie wollen wahrgenommen, berührt, geliebt werden und machen sich dafür zur käuflichen Ware. Zugleich präsentieren sie sich dem Publikum als Professionelle, als Auftretende, die gefallen müssen. Auf einer zweiten Ebene werden so auch die Zwänge des Tanztheaters zum Thema gemacht.

Dieses frühe Stück gehört zu den meist gespielten Arbeiten des Wuppertaler Tanztheaters. Bereits damals fragte sich Pina Bausch, wie das wohl wäre, es eines Tages mit ihren älter gewordenen Mitwirkenden zu inszenieren. 22 Jahre nach der Uraufführung erarbeitete sie eine Version mit Amateuren von über 65 Jahren. Kurz vor ihrem Tod entstand auch der „Kontakthof mit Jugendlichen“, der von einigen Mitarbeiterinnen ebenfalls mit Laien verwirklicht wurde. Diese Inszenierungen mit verschiedenen Generationen zeigen, dass Tanztheater nicht elitär ist, sondern alle Körper, alle Lebensalter und alle Erfahrungen einschließen kann. 

Viele Choreografien von Pina Bausch enden so wie sie begonnen haben. Man verlässt das Theater und denkt: Es hört nicht auf – das, was Menschen unternehmen, um geliebt zu werden. Wenn man das Stück Jahre später erneut sieht, hat man das Gefühl, es habe auch in der Abwesenheit nicht aufgehört. Tanzende wurden zwar ausgetauscht, andere haben die Rollen übernommen – aber das Spiel geht weiter, wie das Leben selbst.

„Echoes“ wurde im letzten Winter in Wuppertal uraufgeführt und ist nun zum Berliner Theatertreffen 2025 eingeladen worden.

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Berliner Theatertreffen 2025: „Sancta“ von Florentina Holzinger

Während abends nach der Papstwahl im Vatikan weißer Qualm aufsteigt, tummeln sich vor der Berliner Volksbühne auf Rollschuhen fahrende oder Selfies machende Nonnen. Sie sind die Chorsängerinnen und Tänzerinnen des Stücks „Sancta“ von Florentina Holzinger, das zum Berliner Theatertreffen 2025 eingeladen wurde und gleich beginnen wird.

Als der Vorhang aufgeht, zeigen sich etliche Zuschauende im Saal noch schnell den römischen Rauch auf ihren Smartphones. Auf der jetzt offenen Bühne liebt sich – explizit wie es neuerdings heißt – leidenschaftlich ein nacktes Frauenpaar. Ein Riesenroboter schwenkt eine große Kirchenkerze. Zwei Ordensschwestern singen „Mir ist als klängen bodenlose Tiefen.“ Wie Krebse kriechen einige entblößte Akteurinnen auf der Bühne herum, kraxeln schließlich die Bühnenrückwand hoch, die ein Bild aus der Sixtinischen Kapelle darstellt. Aber das wird erst später im Stück deutlich, wenn die Wand zerschlagen wird, um „die Kirche zu erneuern.“

Das Orchester im Bühnengraben spielt die Melodien aus Paul Hindemiths Einakter-Oper „Sancta Susanna“, und das Libretto wird vom Nonnenchor oder einigen Solistinnen gesungen. Darin geht es um die junge Ordensfrau Susanna, die in Verzückung gerät, erotische Begierde verspürt und sich gegen die strenge klösterliche Ordnung auflehnte. Das 1921 uraufgeführte Stück war gerade aufgrund der Vermischung religiöser und sexueller Motive damals extrem skandalös – und ist die Vorlage für Holzingers aktuelles Gesamtkunstwerk. Auch 100 Jahre später demonstrierten in Stuttgart und anderswo fundamentalreligiöse Fanatiker gegen die angeblich blasphemischen und frevelhaften Provokationen der Choreografin. 

Ein riesiges rotleuchtendes Kreuz kracht auf die Bühne. Darauf kopuliert jetzt das nackte Paar. Susanna reißt sich die Kleider vom Leib. „Ich darf Euch nun die Schwestern meines Ordens vorstellen“, verkündet sie. Bevor sie sich völlig entkleiden, agieren etliche Tänzerinnen mit Reststücken ihrer Nonnenroben. Die Hindemithklänge gehen in Rockmusik über. Ohrenbetäubendes Geschrei. Irrsinnige E-Gitarrenriffs einer Rollschuhfahrerin. Andere rasen mit ihren Rollerblades in der Half Pipe auf der Bühne. Eine riesige Glocke senkt sich herab, eine Tänzerin wird zum Klöppel und läutet die Ektase ein.

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Bausch trifft Brecht. Und Weill

„Die sieben Todsünden“ von Pina Bausch in Wuppertal. Gradwanderung zwischen Empathie und Distanz: So begegnete Pina Bausch dem ewig vorwurfsvollen Zeigefinger Brechts.

Dunkel und völlig kahl ist die Bühne. Später wird im Hintergrund das Wuppertaler Symphonieorchester sichtbar. Dann beleuchtet ein Mann auf einer Leiter immerzu mit dem Scheinwerfer eine Tänzerin. Musik setzt ein. Nun stimmt Sängerin Ute Lemper die folgende Geschichte an: „Wir sind eigentlich nicht zwei Personen / sondern nur eine einzige.“ 

Sie ist die coole, planende, strenge Anna1, ihre tanzende Schwester die verrückte, verspielte, lebenslustige Anna2: Die beiden sind „aufgebrochen nach den großen Städten Amerikas“, um Geld zu verdienen für ein Haus in Louisiana. Jeder besuchte Ort steht für eine der sieben Todsünden. Unaufhörlich fordert die Schwester von Anna2, nicht den Lastern zu verfallen, sondern sich brav zu prostituieren. „Denk an das Haus in Louisiana!“ Während der durchgehenden Handlungsgesänge werden vom Wuppertaler Tanztheater Szenen angespielt, umgedeutet oder paraphrasiert: 

Anna2 wird als Hure ausstaffiert. Ein Frauenensemble bietet sich lasziv an. Sie mischt sich darunter. In der Episode „Wollust“ in Los Angeles verliebt sie sich in einen Kunden. Schwarzgekleidet formieren sich viele Tänzerinnen zu grotesk maschinenartigen Revueauftritten. Männer stampfen diagonal über die Bühne, grabschen sich nacheinander Anna2. Die wird auch vermessen und gewogen. Unaufhörlich wird sie gequält und geschunden, obwohl sie sich gelegentlich tapfer wehrt. Sehr beklemmend ist sie für das Publikum Opfer der Verhältnisse. Stärker als in der Brecht’schen Vorlage wird weniger der gesellschaftliche Hintergrund betont, sondern Annas Ausbeutung und Zerrissenheit als Ware Frau.

Puppenkarussell aus Frauen

1933 schrieb der bereits aus Deutschland geflüchtete Bertolt Brecht das Libretto für Kurt Weills satirisches „Ballett mit Gesang“, das damals von George Balanchine in Paris choreografiert wurde. Pina Bausch inszenierte „Die sieben Todsünden“ 1976, drei Jahre nach Beginn ihres Engagements in Wuppertal, als erste theatralisch-tänzerische Collage. 

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„Ich heiße Viktor. Ich bin wieder da!“

Mit einer sofort ausverkauften Neueinstudierung kommt erneut „Viktor“, das legendäre Rom-Stück von Pina Bausch, auf die Bühne des Wuppertaler Tanztheaters.


Neueinstudierung meint nicht die Veränderung oder Kürzung des wegweisenden Tanzstücks aus dem Jahr 1986, wie es einmal ein naseweiser Zahnspangen-Volontär in der ZEIT forderte. Im Gegenteil – alle Choreografien der 2009 gestorbenen Pina Bausch werden Bild für Bild, Szene für Szene detailliert und werkgetreu rekonstruiert. Dabei helfen ehemalige Tänzerinnen und Tänzer des Ensembles den Neuen oder Jungen und „übergeben“ ihre Rollen. In der aktuellen Inszenierung ist nur noch eine einzige Ballerina, Julie Anne Stanzak, aus der Originalaufführung von vor fast 40 Jahren dabei. Einige Male wurde „Viktor“ bereits in den letzten Jahrzehnten wieder auf die Bühne gebracht und hatte jeweils nichts von seiner Kraft und Berührung verloren.

Die Bühne wirkt wie eine viele Meter hohe Erdgrube, vielleicht ist es ein gigantisches offenes Grab, in dem das Ensemble agiert. Gelegentlich schippt ein Totengräber Erde herunter. Ein scheinbar lebloses Paar wird hereingetragen und auf dem Boden liegend, von einem Mann getraut. Zum Hochzeitskuss dreht er die beiden zueinander, danach rollen sie wieder einsam auseinander. Eine Frau wird in einen Teppich gewickelt. Die singende, hüpfende Tänzerin soll unter einem Wintermantel zum Schweigen gebracht werden. Zu einem bolivianischen Klagelied ruckelt eine sitzende Tänzerin, die Arme in die Luft schlingend, zur Rampe nach vorne. Sie wird von irgendjemandem zurückgeschleift und beginnt ihren tragischen, berührenden Tanz aufs Neue.

Andere Tanzende werden hereingetragen und hochgehalten. Plötzlich geht eine aufgeregte Versteigerung los, in der zum Geschrei der Auktionatorin auch Schränke, Bilder, Vasen und anderer Plunder herein- und wieder herausgeschleppt wird. Noch in der Totengrube, im Abgrund wird gefeilscht und gehandelt – aber auch geträumt und fantasiert, ein anderes Leben zu leben: Denn unaufhörlich versuchen sich hier Menschen zu finden, zueinander zu kommen. Als sich ein Paar küsst, mogelt sich eine Frau dazwischen. Verschämt lässt eine Tänzerin jemanden unter ihren Rock schauen. Mehrfach zieht sich eine andere kokett aus und ein neues Kleid an, geht lockend umher, zieht das Kleid aus und ihr erstes wieder an. Eine stopft Kalbfleisch in ihre Ballettschuhe und riskiert einen Spitzentanz. 

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Detlev Heinichen und die Bandbreite des modernen postdramatischen Theaters

Hommage für Detlef Heinichen
Seit sieben Jahren prägt der charismatische Kulturpreisträger, Macher des Theatriums und Bühnenkünstler Detlef Heinichen das kulturelle Leben weit über den Bergwinkel hinaus. Heute – am 12. April – begeht er den 70. Geburtstag, alleine auf dem Pilgerweg zwischen Porto (Portugal) und Santiago de Compostela (Spanien). 

„Dieser ‚Camino de Portugues‘ muss was Magisches haben“, sagt er, aber ihn leiten keine religiösen Gefühle, er nutzt die Wanderung zum Nachdenken. Heinichen ist kein Kauz, auch wenn er viele Solostücke mit seinem Figurentheater entwickelte. Er arbeitet gerne mit anderen Akteuren, das haben seine Werke über „Jonny Cash“ oder „Manche mögen‘s heiß“ offenbart. 

Seit er in der zweiten Klasse gekleisterte Papierfiguren zum Leben erweckte, fasziniert ihn das Puppenspiel. In seinem ersten Kinderstück staunte er, wie – unerwartet von ihm – die Kleinen reagierten. Seitdem entwickelte er Figurentheater als Hobby, doch in der Pubertät wurde es brenzlig, als er seine Werke im Hinterhof in Magdeburg aufführte. „Spätestens dann verabschiedet man sich ja von Puppen“, erinnert er sich, „aber für mich waren sie keine Kuschelpuppen, sondern Darsteller!“ Er hatte sogar einen „Bodyguard, zwei Jahre älter, zwei Köpfe größer als ich, der mein Spiel mochte und mich vor den Gleichaltrigen schützte.“

Mutig und naiv bewarb er sich mit 17 Jahren an der Schauspielschule, aber man empfahl ihm „noch zu reifen.“ Überraschend ermöglichte ihm der Chef der Zwickauer Puppenbühne eine theaterpraktische Ausbildung. Nach der Militärzeit studierte er ab 1975 an der renommierten Ernst-Busch-Schule in Berlin. Hier reifte er in dreieinhalb Jahren vom Puppenspieler zum umfassend ausgebildeten Schauspieler und kehrte nach Zwickau zurück: „Die gewährt mir eine Chance, ich wollte ihnen was zurückgeben.“

Doch dort wurde es dramatisch, denn 1980 wollte die Stasi – wohl angesichts der revolutionären Ereignisse in Polen – ein Exempel statuieren: Wegen „staatsfeindlicher Äußerungen und Verunglimpfung staatlicher Organe“ auf der Bühne, musste er ein Jahr „in die Produktion“ – in eine Brauerei und ein Ausbesserungswerk: „Das fand ich gar nicht so schlecht.“ Dann kam er nach Dresden, war hier kurz in Stasi-Haft und sah in der DDR keine Chance mehr für sich. 1986 stellte er den schnell bewilligten Ausreiseantrag.

In Bremen übernahm er ein antiquiertes Puppentheater und erneuerte es zu einem zeitgemäßen, gut besuchten Theatrium mit eigenem Festival. Heinichen war gut vernetzt in der avantgardistischen Szene der Stadt, von Peter Zadek bis Johan Kresnik.

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Tanztheater „Europa brennt“

„Europa brennt!“ Das neue Stück der Compagnie Artodance ist keine durchgehende Erzählung, sondern eine Collage aus assoziativen Bewegungsbildern und Tanzszenen. Die Kulturpreisträgern des Main-Kinzig-Kreises, Monica Opsahl, präsentierte ihre Choreografie zur derzeitigen Situation in Europa, im Rahmen der KulturWerk-Woche 2024 in Schlüchtern.

Dramatisch beginnt das Tanztheater mit Flackerlicht, Schüssen und Explosionen im Hintergrund. Ein verzerrtes Cello intoniert die Europahymne, die „Ode an die Freude“, mit strengen soldatischen oder getriebenen Bewegungen ziehen drei Tänzerinnen über die Bühne. Plötzlich werden sie von zwei maskierten Kriegerinnen mit Maschinenpistolen bedroht, sie haben Angst, unterwerfen sich – doch sie versuchen auch sich zu wehren, gemeinsam gegen die Eindringlinge zu erheben.

Kreischige, tiefdröhnende Klänge fahren in den Bauch und machen die Tanzenden mutiger. Momente der Empörung und Abwehr, bis alle Beteiligten zu Boden sinken, während die Deutschlandhymne angespielt wird. Später drücken Einzelne mit eindringlichen stummen Schreien ihren Schmerz, ihre Trauer, ihre Leiden aus. Eine fällt um, wird von den anderen getragen, eine Stürzende wird aufgefangen und weitergereicht. In der Verzweiflung gibt es zu sanften Tönen immer wieder berührende Szenen mit Kontakt, Beistand, Verbundenheit. Vertieft wird die intensive Anmutung der Tänzerinnen für das Publikum, durch die hervorragende Licht- und Klanggestaltung (Arnold Pfeifer). 

Im zweiten Teil des Abends, die Frauen sind jetzt verschrobener alltäglich gekleidet, geht es abstrakter zu: Sie tanzen das Leben – begegnen sich, schaffen Distanz und Nähe, holen Ausreißerinnen zurück, werden auseinandergerissen. Zwischendurch frieren sie zu eigenartigen Menschenskulpturen ein, sind sie Überlebende? Um Rettung Kämpfende? Denn die Bedrohung ist nicht vorbei, das Draußen erreicht auch die KulturWerk-Halle. Das Schlussbild im Nebel, zu „alle Menschen werden Brüder“, ist sanft und versöhnlich. Jedoch der Tanzabend ist kein Traum. „Mit letztem Atem erklingt mein Schrei: Du darfst nicht schlafen – es ist nicht vorbei!“ So hieß es in dem norwegischen Gedicht von 1937, „Europa brennt“, das Opsahl vor der Aufführung programmatisch rezitierte.

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Ein Besuch der Proben für die Kriminalkomödie „Scherenschnitt“

Das neu gegründete Theaterensemble ImmerDaneben präsentiert dem Besucher ihr Stück in einem ersten Durchlauf. Ein Friseursalon ist in einer leerstehenden Wohnung angedeutet, die Akteure kommen herein: Der Figaro macht ordinäre Bemerkungen über Körperbehaarung, die feine, aufgedrehte Dame neigt zur Hysterie, der düstere „Ausländer“ bleibt undurchsichtig, die freizügige Gehilfin des Friseurs ist zunächst noch verhalten. Dazwischen lässt sich der Kommissar inkognito rasieren.

Es sind scherenschnittartig wirkende Figuren, die hier mal fröhlich, mal sarkastisch aufeinandertreffen. „Soll ich hier getoastet werden?“, blafft die feine Dame unter der Haube. 

Entsetzlich laute Klaviermusik von Nachbarin Frau Czerny in der Wohnung obendrüber ertönt, der Barbier flippt aus: „Tagein, tagaus dieser Krach!“ Mit dem Rasiermesser fuchtelt er am Hals des Kunden: „Eines Tages bringe ich sie um.“ Kurze Zeit später ist die ältere Pianistin wirklich tot. Ermordet! Alle Auftretenden sind mal draußen gewesen, jeder kann sie getötet haben.

Hatte die reiche Czerny eine Beziehung mit der jungen Friseurin? Begrabbelte der Friseur seine Mitarbeiterin? Hat die feine Dame einen Lover? Ist der „Ausländer“ gar kein Fremder? Hat er eine Affäre mit der Coiffeurin? Während der Ermittlung kommen allerlei Geheimnisse und Bösartigkeiten ans Licht. Bald weiß man gar nicht mehr, wem man noch glauben kann. Alle haben ein Mordmotiv, unaufhörlich gibt es neue Wendungen: perfide Beschuldigungen werden konstruiert, aber scheinbare Beweise wieder zerpflückt. Und es gibt viel zu lachen.

Häufig entfernt sich die Handlung von der „Tatort“-Struktur, löst sich von gehässigen oder intimen Annäherungen der Beteiligten. Denn im Spiel geht es auch um alltägliche Ereignisse, die plötzlich eine andere Bedeutung bekommen, die Hinterfragung von scheinbar eindeutiger Wahrnehmung und unbewussten Vorurteilen. Die Zuschauer dürfen im „Scherenschnitt“ mitschnibbeln (müssen es aber nicht), es gibt Raum für Diskussionen oder Nachfragen an die Verdächtigen.

Bereits zu Beginn wird das Publikum gefragt, welcher Figur es einen Mord zutraut.

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Widersprüche nicht mit Kitsch zukleistern

„Schneeweisschen und Rosenrot“ ist das zweite Märchen der diesjährigen Brüder-Grimm-Festspiele in Hanau. Die Erzählung von den ungleichen Mädchen gilt als besonders klischeehaft. Doch abermals wird in dieser Inszenierung die traditionelle Geschichte zerlegt und neu erzählt.

Statt vor Kitsch triefender Harmonie betont das Musical – zunächst – die verborgenen Konflikte im Märchen und bringt sie auf die Bühne: Die zarte Schneeweisschen (Kristina Willmaser) ist vorsichtig und häuslich, während die deftige Rosenrot (Annalisa Stephan) mutig Eskapaden erleben möchte: „Ich muss hier raus, nur einmal. Das Abenteuer ruft“, singt sie. Durch einen unüberwindbaren Fluss ist die Welt geteilt, hier leben rationale Menschen, im Gehölz gegenüber magische Geister und Zwerge. Eines Tages können die Mädchen die Banngrenze überwinden. Auf der anderen Seite begegnen sie unwirklichen Wesen und dem bösen Zwerg, dessen Bart in eine Baumspalte eingeklemmt wurde. 

Das haben ihm zwei, auch charakterlich sehr verschiedene Königssöhne angetan, die ebenfalls in den Zauberhain gelangt sind. Dort suchen der „Bücherwurm“ und der „Abenteurer“ nach dem verlorenen Teil der Krone ihres Vaters. Denn einst wurden die rationale und die magische Welt von der „Krone der Eintracht“ zusammengehalten bis sie zerbrach und die Welt spaltete. Die Waldbewohner in ihren fantastischen Kostümen beschimpfen die menschlichen Eindringlinge als „dumme Glattgesichter“ und protestieren: „Wir sind der Wald!“ Aber einige Geschöpfe des Gehölzes wollen die Begegnung mit den Fremden statt sie zu vertreiben.

Natürlich verlieben sich die Königssöhne und die Mädchen, doch Prinz Tristan wird zwischendurch als Bär verzaubert, was die folgende Handlung noch aufregender macht. Ein Waldwesen kann „bärisch“ sprechen und des Tieres Anliegen vermitteln, wieder ein Mensch zu sein. Am Ende werden Gegensätze und Fremdheit versöhnt, ohne Unterschiede zuzukleistern. Zum ersten Mal in ihrem Leben trennen sich die Geschwister. „Viel zu lange war ich in deinem Schatten“, singt Schneeweisschen, dann beide im Chor: „Ich schaffe das alleine!“ 

Jan Radermacher, der das Märchen umschrieb, will die Diversität und Gemeinsamkeiten – nicht nur der Mädchen – beleuchten. Er wirft die Frage auf, „wie kann es ein Miteinander trotz größter Unterschiede geben? Warum macht uns der Gegensatz zu unserem Altbekannten oftmals Angst?“ 

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