Bilder wie Musik – Helmut Gutbrod in der Kunststation

Die dritte Herbstausstellung in der Kunststation ist dem bildenden Künstler und Musiker Helmut Gutbrod gewidmet. Es ist zwar seine Einzelschau malerischer und grafischer Werke, dennoch sind sie – unter dem Titel „Natur / Struktur“ – gemeinsam mit poetischen Skulpturen und Wandcollagen von Hannelore Weitbrecht zu sehen. In zwei Hallen werden die unterschiedlichen Werke konfrontiert, weil beide Kunstschaffende Bildwelten zur Natur formen, die in einen spannungsvollen Dialog treten. 

Jedoch erschafft die Bildhauerin ihre eigenen natürlichen Formen (wir berichteten), auch Gutbrod arbeitet im weitesten Sinne nach der Natur. Ebenfalls kreiert er keine Nachahmungen, sondern versucht die Klarheit und Kraft elementarer Formen und Strukturen einzufangen. Seine Gemälde und Drucke zeigen scheinbar Kombinationen eigenartiger Landschaften und merkwürdiger Figuren. Aber bei genauem Hinsehen entpuppen sie sich als reine Arrangements aus farbigen Flecken, verdichteten Punkten, unterschiedlichen Linien und geometrischen Gebilden.

Monika Ebertowski, Leiterin des Hauses, meint, er spiele mit Tonalitäten, Sättigungsgraden, Farbschichten und eröffne verblüffende Bezugsfelder aus strukturierten und freien Flächen: „So schafft er unterschiedliche Effekte und Temperamente, die in mir musikalische Assoziationen wecken.“ 

Diese, oft aus verschieden gestalteten Leinwänden zusammengefügten „Gemälde“, erzählen nichts, sie sind weder Abbilder noch Botschaften, sondern autonome ästhetische Gestaltungen. Schließlich ist der Künstler ebenso Musiker – und man kann seine Bildkompositionen wie Klänge wahrnehmen. Sich von ihnen verzaubern oder verstören lassen. Vor ihnen meditieren.

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Die Wunderkammern der Sasha Waltz (2)

Chronologie

Nach dem poetischen Auftakt (Teil 1) wechselt das Buch die Perspektive – und wird zur präzisen Chronik des Ensembles. Noch einmal 100 Seiten widmen die Herausgeber im zweiten Teil des Buches einer Chronologie, die sämtliche Projekte von Sasha Waltz ab 1993 akribisch Jahr für Jahr auflistet.

Im Jahr 2000 – man darf schon sagen: – knallte sie mit ihrer Choreografie „Körper“ in die westdeutsche Tanztheaterszene. Sie gehörte nicht zu den Pionierinnen um Pina Bausch, Susanne Linke oder Reinhild Hoffmann, dazu war sie noch zu jung. Das Wuppertaler Tanztheater wurde 1973 von Pina Bausch übernommen, Waltz gründete 1993 mit Sandig ihr Ensemble im nicht gerade tanzaffinen Berlin. Hier entwickelte sie ihre ersten „Dialoge“ mit Musik und Bildender Kunst, fand später eine feste Spielstätte in den Sophiensälen.

Ums Millennium herum eroberte sie, nach ihrer Berufung an das legendäre Berliner Theater „Schaubühne“, mit ihrem Stück „Körper“ die Bundesrepublik. Obwohl sie bereits vorher dort und international präsent war, kam mit dieser Arbeit der endgültige Durchbruch. Und sie entwickelte ihre Kunst mutig weiter und ging weit über die Grenzen des Tanztheaters hinaus: bei der Eroberung großer Museen wie des Jüdischen Museums Berlin, des MAXXI in Rom oder der Hamburger Elbphilharmonie – sowie durch die Inszenierung von Opern und Oratorien wie „Dido & Aeneas“ oder der „Johannes-Passion“, die sie als Gesamtkunstwerke von Musik, Bewegung und Raum verstand.

Im „Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe“ (ZKM) präsentierte sie 2005 mit ihrer viermonatigen Ausstellung sowie zahlreichen Choreografien und Performances eine Zwischenbilanz ihrer Arbeit. Ganz nebenbei engagierte sie sich auch gesellschaftlich, gründete ein tänzerisches Kinderensemble und ließ geflüchtete Menschen auf die Bühne.

Bereits mit ihren frühen „Dialogen“ – jenen freien Begegnungen von Tänzerinnen, Musikerinnen und Architekturen im Berlin der 1990er-Jahre – legte Sasha Waltz den Grundstein für das, was ihr Werk prägt: den offenen Dialog der Künste im Raum. Deren gelegentliche Nummerierung führt sie bis heute fort („Dialoge 2020 Tegelsee“).

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Die Wunderkammern der Sasha Waltz (1)

In dem vor kurzem erschienen Buch „Sasha Waltz & Guests“ nehmen uns die Herausgeber – Sasha Waltz selbst und Lebensgefährte Jochen Sandig – mit auf einen „assoziativen Weg durch die Geschichte“ ihrer Compagnie: „Wir sind Traumtänzer in dieser ver-rückten Welt. Oder doch eher Seiltänzer? Ohne Netz. Unser Netz ist die Kunst.“ Doch sie spüren langsam das Alter auf sich zukommen, die Endlichkeit, da sei es an der Zeit, einen umfassenden Rückblick zu wagen. Damit wollen sie „das Papier zum Tanzen bringen.“ 

Das gelingt ihnen überzeugend! 
Denn den wenigen großen Schriften über das Ensemble fügen sie keine aktuellen Analysen der letzten Choreografien oder weitere Lobeshymnen der Kritik hinzu. Stattdessen entwickeln sie mit dem Gestalter Daniel Wissmann – sehr überraschend – gleich zu Beginn des Buches auf 200 Seiten poetische Collagen, die sie etwas trocken „Codes“ nennen: Jeweils mit Proben- und Aufführungsfotos, Arbeitsskizzen, kunstgeschichtlichen Bildern und knappen Texten umreißen sie insgesamt 65 szenische Gebilde aus dem Oeuvre von Sasha Waltz.

Es beginnt zurückhaltend, mit unspektakulären Bildern zum Code „Anfang“, in dem Waltz bekennt: „Wenn man ein Stück anfängt, ist das, als ob man von einem Riesenfelsen hinunterspringt…“ Doch dann wird es üppiger bei „Animal“: Fotos animalischer Tanz-Figuren aus unterschiedlichen Arbeiten. Eine Tier-Mensch-Malerei der Choreografin. Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“. Das stachelige Wesen aus dem Werk „Kreatur“. Wunderbar ist auch die umfangreiche Kreation „Kreis“, die durch eindringliche Bilder aus „Sacre“, „Women“ und „Medea“, lebendig wird. „Der Kreis ist eine magische Gestalt. Er markiert einen Ort, an dem sich ein Zauber vollzieht, ein Ritual, eine kultische Handlung.“

Zarte Gebilde wie „Blumen“ oder „Ei“ fügen sich zu kleinen Codes, im Gegensatz zu „Schlangen“ oder „Linien“, in denen sich liegende, ausgestreckte Tänzerinnen und Tänzer festhalten und durch gigantische leere Museumsräume winden. Weitere, einander ähnliche Collagen, etwa „Flüssigkeit“ und „Wasser“, werden dargestellt. Auf einer Doppelseite Fotos der Oper „Dido & Aeneas“ – von tauchenden Tanzenden in riesigen Aquarien. Auf einem Foto trinkt die Tänzerin einen Schluck aus einer Pfandflasche. Spektakuläres und Banales…

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Ein Rundgang durch die Ausstellung „Die Welt ist schön?!“

In der Kunststation Kleinsassen / Rhön ist derzeit die Ausstellung „Die Welt ist schön?!“ zu sehen. 52 Kunstschaffende widmeten sich dieser Frage mit unterschiedlichen Reaktionen und diversen künstlerischen Techniken. 

Bereits der Aufgang zu den Galerieräumen überrascht durch viele gelbe, unregelmäßig angeordnete Klebestreifen. Es ist eine Komposition, die im Dunkeln mit Schwarzlicht leuchtet, doch auch tagsüber irritiert sie die Wahrnehmung der Besucher und stimmt sie auf die Schau ein – siehe Foto oben. Denn etliche der ausgestellten Beiträge sind nicht eindeutig, sie provozieren eigene Assoziationen und entführen in neue Wirklichkeiten.

Beim Rundgang durch die Ausstellung ist die Wirkung einiger großformatiger Bilder überraschend. Größe ist zwar kein Wert an sich, doch manchmal treten einem die Werke quasi auf Augenhöhe gegenüber oder laden zum Eintauchen ein. Etwa in die riesige Ölmalerei „Sickernde Sonnenstrahlen“, in eine Landschaft, die durch das Licht eher abstrakt wirkt.

Spektakuläre, raumgreifende Installationen bilden Schwerpunkte in den Sälen – etwa das papierene Objekt „An manchen Tagen“. Düstere Wolken hängen in der Luft. Ein Stein scheint zu fallen. Durch den Raum treibt ein Wesen. Alles aus Papier mit schwarzem Graphit – man braucht Zeit, um in das Environment einzutauchen. Allmählich lässt sich nachempfinden, wie es der Künstlerin „an manchen Tagen“ geht… auch in einer schönen Welt. Am anderen Ende der Halle die eigenwillige Anordnung zweier größerer Linolschnitte mit uneindeutigen Darstellungen, die sich nur assoziativ erschließen. 

Wer länger verweilt oder wiederkehrt – kann fast übersehene, filigrane Arbeiten entdecken und berührt werden. Dazu gehören kleine, fotografisch und filmisch festgehaltene „Stillleben mit Seifenblasen“ oder „Perlen des Wassers“: Fläschchen mit Miniatur-Videos, in denen kurze Träume aufscheinen. Auch die Serie „Nester“ verzaubert – mit Objekten wie „Luxuriöses Nest“ oder „Kitschiges Nest“. Am Ende das harte, makabre „Asylnest“ aus Stacheldraht.

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Ein Rundgang durch die Gasometer – Buntes im Kessel

In zwei „Kesseln Buntes“ und einem Teil der Galerie zeigt der Kunstverein Fulda „Präsenz“ (Ausstellungstitel) im Museum Modern Art in Hünfeld/Ost-Hessen. 25 Kunstschaffende wurden in das alte Gaswerk eingeladen, die bei den Aufgaben des Vereins besonders engagiert waren. 

Eine Plane mit der Frau, die mit der Stirnlampe nach Kunst sucht, markiert den Eingang zwischen den Kesseln. Bereits im ersten Tank begegnet man einem gigantischen Wal im blaugefärbten Ozean, gemalt mit Ölpastell und Acryl auf Leinwand. Darunter – quasi auf dem Meeresgrund – lagern skurrile Wesen, rote oder oxidierte Stahlskulpturen, die mit den verrosteten Wänden korrespondieren. Sowohl deren Patina, als auch das Blau des Meeres setzt sich in den links angrenzenden dunklen Gemälden fort. 

Deren mythologische Motive – etwa „Die Göttin“ oder „Eruption“ – regen die Fantasien an. Dazwischen ein Mobile aus Kupferplatten, die sich in die Anmutung der Figuren und Rostwände einklingen. Es steht für Gleichgewicht und Leichtigkeit, mildert die etwas dunkle Wirkung der Ecke. Rechts von der „Begegnung mit dem Wal“ zwei Bilder wie Bullaugen. Man schaut hinaus aufs Wasser. Weitere ozeanische Blicke folgen bis zu dem Mann, der in seinem Werk eine Wand wasserblau streicht. Nun weiß er: „Beinahe am Meer zu sein“. Begrenzt wird das Wasser zu den folgenden Landschaften mit drei weißen Stelen.

Auffällig ist die hervorragende und ungewöhnliche Kuratierung – viele Beiträge beziehen sich aufeinander und den umgebenden Raum. In den Kesseln bricht diese Ausstellung konsequent das White-Cube-Konzept. Sie hebt die Kunstwerke nicht aus dem Alltag, lässt sie nicht autonom erscheinen oder für sich sprechen.

Noch stärker, geradezu als körperlich erfahrbares Eintauchen (Immersion) ist das im zweiten Behälter spürbar: Das Environment wird zum Erlebnisraum jenseits des White Cube. Von der Decke hängen zahlreiche „Himmel / Hirngespinster“, kleine textile und metallische Dinge, die den Blick auf eine sinnliche Serie von sechs großen schwarzweißen Akten oder kühne Objekte aus Bauschutt mit Gips („Mutter und Kind“) beeinflussen.

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„En Masse“ im Staatstheater Darmstadt

In der diesjährigen Gastspielreihe zum Ende der Spielzeit verwandelte sich das Staatstheater Darmstadt zur Bühne für zeitgenössische Zirkuskunst. Zwei australische Compagnien und einige regionale Initiativen wollten den hohen Anspruch realisieren: „Die Grenzen zwischen Tanz, Theater, Musik und Akrobatik neu (!) definieren.“ Wir besuchten die Choreografien „En Masse“ des Ensembles „Circa“, das mit seinen Mitteln Schuberts „Winterreise“ und Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ präsentierte. Zwei Werke, an denen sich seit Jahrzehnten die Tanzszene misst.

Neun Gestalten liegen vor dem geschlossenen Bühnenvorhang. Schuberts Wanderer aus der „Winterreise“ stimmt ein unverständliches Lied an – aber nicht das gewohnte „Fremd bin ich eingezogen…“ Langsam kriechen und schlängeln sich die Liegenden hinter den Vorhang, nur eine Tänzerin umgarnt, bedrängt, umschlingt den Tenor.

Knarzen. Geknatter. Dröhnen – eine Kakophonie elektronischer Klänge. Der Vorhang hebt sich, die Figuren sind in ein durchsichtiges Plastikzelt eingeschlossen. Wieder erklingt ein akustisch nicht zu verstehendes Lied aus Schuberts „Winterreise“. Im Zelt winden sich Menschen ineinander und übereinander. Rotten sich zusammen. Stemmen einander waghalsig hoch. Recken sich nach oben. Paare umklammern sich. Vielleicht ist es die Gesellschaft, von der sich der Wanderer abkehrt – oder seine eigenen Erinnerungen?

Nach einem weiteren elektronischen Einschub ertönen erneut Schubert-Klänge. Auf der nun leeren Bühne läuft ein Einzelner über zusammen gerottete Körper. Dann ringen viele plötzlich athletisch miteinander. Drei Figuren stehen halsbrecherisch aufeinander. Mühsam halten sie das Gleichgewicht. Eine tappt auf Spitzen mit grotesken Bewegungen durchs Bild. Dann hören wir den „Leiermann“, das Schlusslied. Doch die Musik wechselt weiter zwischen den Schubertklängen und elektronischen Tönen. Zum eigentlichen Anfangslied „Fremd bin ich eingezogen…“  kämpfen Paare wild und ungezähmt miteinander. Doch das Ende lässt immer noch auf sich warten. 

Mal erleben wir in den 12 Szenen Akrobatik pur, dann wieder bewegende Bilder einsamer Menschen. Annäherungen von Paaren. Ausgrenzungen oder Integration durch die Gemeinschaft. Die Compagnie zeigt eine zerrupfte Version der „Winterreise“.

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Staatsballett Berlin: „Winterreise“

Noch bevor die Musik beginnt, stakst ein Wanderer mit weiten, grotesken Bewegungen über die Bühne. Der zusammengeknäulte Schwarm schwarzer Gestalten erwacht langsam, synchron. Am Rand steht starr eine Frau, die mit verbundenen Augen einen Raben hält. Dann erklingt das bewegende Lied: „Fremd bin ich eingezogen / Fremd zieh‘ ich wieder aus.“ 

Mit diesen klagenden Worten des Dichters Wilhelm Müller beginnen die Gesänge der „Winterreise“. Bereits darin verdichtet sich das gesamte Thema von Verlassenheit und sozialer Kälte. Die neue Aufführung im Berliner Staatsballett ist jedoch die zeitgenössische Interpretation dieser romantischen Verse. Es sind nicht die wohlklingenden Sologesänge des Wanderers zu Franz Schuberts Klavierklängen zu hören, obwohl er in seiner Zeit heftig umstritten war. Stattdessen erleben wir die krasse Version des Komponisten Hans Zender aus dem Jahr 1993, komponiert für Tenor und kleines Orchester. Dazu tanzt das Berliner Staatsballett Assoziationen zu den 24 Gedichten Müllers.

Zenders „komponierte Interpretation“ greift auf das gesamte Spektrum neoromantischer und moderner Klänge zurück – bis zur Neuen Musik, ergänzt um alltägliche und exotische Geräusche. Tenor Matthew Newlin beherrscht die von Zender geforderten sanften oder kräftigen Gesänge ebenso wie Sprechgesang und groteske Stimmspiele. Das alles sollte man wissen – denn natürlich wirken auch die Choreografien zu den 24 Gedichten sehr zeitgemäß. Sie changieren zwischen modernem Ballett und aktuellem Tanztheater. Choreograf Christian Spuck wollte die Dichtungen nicht tänzerisch illustrieren, sondern vielmehr das Innere des einsamen und traurigen Wanderers in der rauen Natur zeigen. Er hat großes Interesse an verrätselten und abstrakten Tanzbildern.

Man weiß nicht genau was dem Protagonisten der „Winterreise“ widerfahren ist – offenbar hat die Geliebte ihn verlassen müssen. Nun streift er ziellos durch die kalte Welt, in jener verträumten Haltung, mit der die Romantiker das Wandern als Selbstzweck verklärten. Bereits in den ersten Szenen wird das deutlich, die nun durchgehend zu eigenen Assoziationen herausfordern. 
Freie, häufig rätselhafte Bilder ziehen sich durch alle Szenen, bis das Werk eineinhalb Stunden später mit dem gesamten, fast nackt wirkenden Ensemble endet.

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Berliner Theatertreffen 2025: „Kontakthof Echoes of ‘78“ von Meryl Tankard

Fünf Tänzerinnen, vier Tänzer sind übriggeblieben und begegnen sich in der Choreografie „Kontakthof Echoes of ‘78“ nach Pina Bausch von Meryl Tankard. Alt sind sie geworden, denn vor 46 Jahren gehörten sie zur Erstbesetzung dieses legendären Stücks. Doch nach wie vor sind sie einsam, flirten oder zanken sich – untereinander oder mit imaginären Gegenübern. Sie bieten sich an, zeigen ihre Körperteile, demonstrieren, was sie so können, begutachten die anderen, nähern sich an und quälen einander. 

Ihr „Kontakthof“ ist kein Raum für käufliche Liebe im engeren Sinne, sondern der Sehnsuchtsort dieser Menschen: Sie wollen wahrgenommen, berührt, geliebt werden und machen sich dafür zur käuflichen Ware. Zugleich präsentieren sie sich dem Publikum als Professionelle, als Auftretende, die gefallen müssen. Auf einer zweiten Ebene werden so auch die Zwänge des Tanztheaters zum Thema gemacht.

Dieses frühe Stück gehört zu den meist gespielten Arbeiten des Wuppertaler Tanztheaters. Bereits damals fragte sich Pina Bausch, wie das wohl wäre, es eines Tages mit ihren älter gewordenen Mitwirkenden zu inszenieren. 22 Jahre nach der Uraufführung erarbeitete sie eine Version mit Amateuren von über 65 Jahren. Kurz vor ihrem Tod entstand auch der „Kontakthof mit Jugendlichen“, der von einigen Mitarbeiterinnen ebenfalls mit Laien verwirklicht wurde. Diese Inszenierungen mit verschiedenen Generationen zeigen, dass Tanztheater nicht elitär ist, sondern alle Körper, alle Lebensalter und alle Erfahrungen einschließen kann. 

Viele Choreografien von Pina Bausch enden so wie sie begonnen haben. Man verlässt das Theater und denkt: Es hört nicht auf – das, was Menschen unternehmen, um geliebt zu werden. Wenn man das Stück Jahre später erneut sieht, hat man das Gefühl, es habe auch in der Abwesenheit nicht aufgehört. Tanzende wurden zwar ausgetauscht, andere haben die Rollen übernommen – aber das Spiel geht weiter, wie das Leben selbst.

„Echoes“ wurde im letzten Winter in Wuppertal uraufgeführt und ist nun zum Berliner Theatertreffen 2025 eingeladen worden.

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Berliner Theatertreffen 2025: „Sancta“ von Florentina Holzinger

Während abends nach der Papstwahl im Vatikan weißer Qualm aufsteigt, tummeln sich vor der Berliner Volksbühne auf Rollschuhen fahrende oder Selfies machende Nonnen. Sie sind die Chorsängerinnen und Tänzerinnen des Stücks „Sancta“ von Florentina Holzinger, das zum Berliner Theatertreffen 2025 eingeladen wurde und gleich beginnen wird.

Als der Vorhang aufgeht, zeigen sich etliche Zuschauende im Saal noch schnell den römischen Rauch auf ihren Smartphones. Auf der jetzt offenen Bühne liebt sich – explizit wie es neuerdings heißt – leidenschaftlich ein nacktes Frauenpaar. Ein Riesenroboter schwenkt eine große Kirchenkerze. Zwei Ordensschwestern singen „Mir ist als klängen bodenlose Tiefen.“ Wie Krebse kriechen einige entblößte Akteurinnen auf der Bühne herum, kraxeln schließlich die Bühnenrückwand hoch, die ein Bild aus der Sixtinischen Kapelle darstellt. Aber das wird erst später im Stück deutlich, wenn die Wand zerschlagen wird, um „die Kirche zu erneuern.“

Das Orchester im Bühnengraben spielt die Melodien aus Paul Hindemiths Einakter-Oper „Sancta Susanna“, und das Libretto wird vom Nonnenchor oder einigen Solistinnen gesungen. Darin geht es um die junge Ordensfrau Susanna, die in Verzückung gerät, erotische Begierde verspürt und sich gegen die strenge klösterliche Ordnung auflehnte. Das 1921 uraufgeführte Stück war gerade aufgrund der Vermischung religiöser und sexueller Motive damals extrem skandalös – und ist die Vorlage für Holzingers aktuelles Gesamtkunstwerk. Auch 100 Jahre später demonstrierten in Stuttgart und anderswo fundamentalreligiöse Fanatiker gegen die angeblich blasphemischen und frevelhaften Provokationen der Choreografin. 

Ein riesiges rotleuchtendes Kreuz kracht auf die Bühne. Darauf kopuliert jetzt das nackte Paar. Susanna reißt sich die Kleider vom Leib. „Ich darf Euch nun die Schwestern meines Ordens vorstellen“, verkündet sie. Bevor sie sich völlig entkleiden, agieren etliche Tänzerinnen mit Reststücken ihrer Nonnenroben. Die Hindemithklänge gehen in Rockmusik über. Ohrenbetäubendes Geschrei. Irrsinnige E-Gitarrenriffs einer Rollschuhfahrerin. Andere rasen mit ihren Rollerblades in der Half Pipe auf der Bühne. Eine riesige Glocke senkt sich herab, eine Tänzerin wird zum Klöppel und läutet die Ektase ein.

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„Selig sind die Toten“ – Mozarts Requiem als Gesamtkunstwerk

Das ausverkaufte Kasseler Staatstheater präsentierte Wolfgang Amadeus Mozarts „Requiem“ im Rahmen des Themas Tod in dieser Spielzeit. Mit Ovationen im Stehen bejubelte das Premierenpublikum das mutige, experimentelle Gesamtkunstwerk „Selig sind die Toten“: Zur Musik des Staatsorchesters und Gesängen des Opernchores tanzt das Ensemble „Tanz_Kassel“. Dazu wird der unvollendeten Todesmesse des Komponisten – im Wechselspiel mit seinen klassischen Klängen – zeitgenössisches Sound-Design hinzugefügt. 

Der Vorhang hebt sich, die Bühne liegt im Dunklen. Vage erkennbar eine Menschenkette mit Grablichtern, die langsam nach vorne schreitet. Es ist der Chor, der bald das „Requiem“ anstimmt, um Ruhe und Licht für die Toten zu erbitten. Davor kaum sichtbar eine weiße Gestalt, die sich windet, reckt und streckt. Eine ruhige, meditative Atmosphäre entsteht.

Doch dann grelles Licht in einer kleinen weißen, über der großen schwebenden Bühne. Krasse Technoklänge erdröhnen. Die Gestalt taucht oben auf, nach und nach quellen weitere, nur spärlich bekleidete Menschen aus der Notausgangstür herein. Später farbiges Licht. Wilde Tänze. Viel Geschrei. Dann Stille, die Orchesterbühne fährt hoch. Der Chor erscheint auf der kleinen Bühne, intoniert die „Sequenzen“. Rhythmisch bewegen sich die Singenden, während die Tanzenden mühselig aus der Höhe heruntergleiten. Auf der Bühne ein Berg Kleider. Die Menschen ziehen sich an, begegnen sich ungestüm zu Mozarts dramatischer Musik. Angesichts des Todes zeigen sie Verzweiflung. Hoffnung. Entkommen. Sich fügen…

Die Company illustriert nicht die Texte der Messe, sondern setzt sie in ihre Bewegungssprache um. Oft frieren die Performenden in den Aktionen ein, schaffen berührende Szenenbilder. Alle Singenden treten ohne Notenblätter auf und werden häufig in die Choreografien eingebunden. Solistinnen und Solisten bewegen sich mitten im Ensemble und kreieren manchmal Pas de deux mit Tanzenden. 

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