Die Wunderkammern der Sasha Waltz (2)

Chronologie

Nach dem poetischen Auftakt (Teil 1) wechselt das Buch die Perspektive – und wird zur präzisen Chronik des Ensembles. Noch einmal 100 Seiten widmen die Herausgeber im zweiten Teil des Buches einer Chronologie, die sämtliche Projekte von Sasha Waltz ab 1993 akribisch Jahr für Jahr auflistet.

Im Jahr 2000 – man darf schon sagen: – knallte sie mit ihrer Choreografie „Körper“ in die westdeutsche Tanztheaterszene. Sie gehörte nicht zu den Pionierinnen um Pina Bausch, Susanne Linke oder Reinhild Hoffmann, dazu war sie noch zu jung. Das Wuppertaler Tanztheater wurde 1973 von Pina Bausch übernommen, Waltz gründete 1993 mit Sandig ihr Ensemble im nicht gerade tanzaffinen Berlin. Hier entwickelte sie ihre ersten „Dialoge“ mit Musik und Bildender Kunst, fand später eine feste Spielstätte in den Sophiensälen.

Ums Millennium herum eroberte sie, nach ihrer Berufung an das legendäre Berliner Theater „Schaubühne“, mit ihrem Stück „Körper“ die Bundesrepublik. Obwohl sie bereits vorher dort und international präsent war, kam mit dieser Arbeit der endgültige Durchbruch. Und sie entwickelte ihre Kunst mutig weiter und ging weit über die Grenzen des Tanztheaters hinaus: bei der Eroberung großer Museen wie des Jüdischen Museums Berlin, des MAXXI in Rom oder der Hamburger Elbphilharmonie – sowie durch die Inszenierung von Opern und Oratorien wie „Dido & Aeneas“ oder der „Johannes-Passion“, die sie als Gesamtkunstwerke von Musik, Bewegung und Raum verstand.

Im „Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe“ (ZKM) präsentierte sie 2005 mit ihrer viermonatigen Ausstellung sowie zahlreichen Choreografien und Performances eine Zwischenbilanz ihrer Arbeit. Ganz nebenbei engagierte sie sich auch gesellschaftlich, gründete ein tänzerisches Kinderensemble und ließ geflüchtete Menschen auf die Bühne.

Bereits mit ihren frühen „Dialogen“ – jenen freien Begegnungen von Tänzerinnen, Musikerinnen und Architekturen im Berlin der 1990er-Jahre – legte Sasha Waltz den Grundstein für das, was ihr Werk prägt: den offenen Dialog der Künste im Raum. Deren gelegentliche Nummerierung führt sie bis heute fort („Dialoge 2020 Tegelsee“).

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Die Wunderkammern der Sasha Waltz (1)

In dem vor kurzem erschienen Buch „Sasha Waltz & Guests“ nehmen uns die Herausgeber – Sasha Waltz selbst und Lebensgefährte Jochen Sandig – mit auf einen „assoziativen Weg durch die Geschichte“ ihrer Compagnie: „Wir sind Traumtänzer in dieser ver-rückten Welt. Oder doch eher Seiltänzer? Ohne Netz. Unser Netz ist die Kunst.“ Doch sie spüren langsam das Alter auf sich zukommen, die Endlichkeit, da sei es an der Zeit, einen umfassenden Rückblick zu wagen. Damit wollen sie „das Papier zum Tanzen bringen.“ 

Das gelingt ihnen überzeugend! 
Denn den wenigen großen Schriften über das Ensemble fügen sie keine aktuellen Analysen der letzten Choreografien oder weitere Lobeshymnen der Kritik hinzu. Stattdessen entwickeln sie mit dem Gestalter Daniel Wissmann – sehr überraschend – gleich zu Beginn des Buches auf 200 Seiten poetische Collagen, die sie etwas trocken „Codes“ nennen: Jeweils mit Proben- und Aufführungsfotos, Arbeitsskizzen, kunstgeschichtlichen Bildern und knappen Texten umreißen sie insgesamt 65 szenische Gebilde aus dem Oeuvre von Sasha Waltz.

Es beginnt zurückhaltend, mit unspektakulären Bildern zum Code „Anfang“, in dem Waltz bekennt: „Wenn man ein Stück anfängt, ist das, als ob man von einem Riesenfelsen hinunterspringt…“ Doch dann wird es üppiger bei „Animal“: Fotos animalischer Tanz-Figuren aus unterschiedlichen Arbeiten. Eine Tier-Mensch-Malerei der Choreografin. Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“. Das stachelige Wesen aus dem Werk „Kreatur“. Wunderbar ist auch die umfangreiche Kreation „Kreis“, die durch eindringliche Bilder aus „Sacre“, „Women“ und „Medea“, lebendig wird. „Der Kreis ist eine magische Gestalt. Er markiert einen Ort, an dem sich ein Zauber vollzieht, ein Ritual, eine kultische Handlung.“

Zarte Gebilde wie „Blumen“ oder „Ei“ fügen sich zu kleinen Codes, im Gegensatz zu „Schlangen“ oder „Linien“, in denen sich liegende, ausgestreckte Tänzerinnen und Tänzer festhalten und durch gigantische leere Museumsräume winden. Weitere, einander ähnliche Collagen, etwa „Flüssigkeit“ und „Wasser“, werden dargestellt. Auf einer Doppelseite Fotos der Oper „Dido & Aeneas“ – von tauchenden Tanzenden in riesigen Aquarien. Auf einem Foto trinkt die Tänzerin einen Schluck aus einer Pfandflasche. Spektakuläres und Banales…

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Die Choreografie „Let’s talk about Trance“ in Tanz_Kassel

„Let’s talk about Trance“ heißt die Kreation der Choreografin Andrea Peña, entstanden mit Teilen des Ensembles Kassel_Tanz. Also gut, sprechen wir über Trance.

Im Kellertheater des Fridericianums herrscht eine Atmosphäre wie im Fitness-Studio. Bereits beim Eintreten des Publikums in den kleinen Saal führt das Ensemble auf der Bühne rhythmisch angedeutete Kniebeugen aus. Alle hecheln im Takt: „Hah! – Hah! – Hah!“ „Das Licht erlischt. Als es wieder hell wird, setzt laute, vorantreibende Minimal-Musik ein. Stoisch führt die Compagnie ihre gymnastischen Übungen fort.“

Nach langer, langer Zeit beginnen leichte kollektive Variationen der Bewegungen, die Akteure gleiten, schweben, winden sich, zucken… Unaufhörlich impulsieren die Klänge die nun eher Tanzenden – irgendwann sogar zu freieren Körperaktionen im Raum. Trotz der andauernden Wiederholungen entfalten sich Musik und Tanz in kleinen, behutsamen Schritten. In dem intimen Raum ist die Nähe zu den Tänzerinnen und Tänzern sehr dicht, man kann sie spüren, riechen, mit ihnen verschmelzen. 

Wie die zwölf Tanzenden gleiten auch wir Außenstehenden allmählich in einen tranceartigen Zustand: Zeit wird bedeutungslos. Schwerelosigkeit stellt sich ein. Musik und Bilder ziehen uns mit. Man atmet im Rhythmus der sanften aber unerbittlich vorantreibenden Musik: Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen… Gibt es noch ein drinnen oder draußen? Längst sind wir nicht nur visuell beteiligt. Eine Tänzerin steigt aus, setzt sich im Gang auf den Boden neben mich. Wiegt sich im Takt. Erhebt sich ein Stück. Ich bin verwirrt – ist sie aus ihrer Formation entwichen oder nur eine mutige Zuschauerin? Dann verschwindet sie wieder auf die Bühne – und ich kehre zurück in meinen Flow-Zustand.

In weiteren Teilen der Aufführung lösen sich die kollektiven Aktionen nach und nach auf, manchmal entstehen Soli. Akrobatische Begegnungen im Raum, eigenartige Pas de deux entspinnen sich. Unvermindert treiben die Minimal-Klänge an – mittlerweile halbnackte, schwitzende, klebende Leiber verschränken sich zu Zweier- und Dreierfiguren. Anfassen. Schmusen. Abstoßen. Auch zwischen den Männern und Frauen – im Sinne von „aufbrechenden Geschlechternormen“, wie die Choreografin meinte. Plötzlich: Gefühle. Handlungsfetzen. Zuvor war alles Bewegung pur. 

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„Maybe Wildness“ – Tanz im Mousonturm

Im Frankfurter Mousonturm präsentieren 35 Student*innen – in wechselnden Besetzungen – sechs Tanzstücke, die von ihren Lehrenden choreografiert wurden. Ein Ensemble sitzt zu Beginn eines Stückes im Kreis. In der Mitte tanzen und posieren einzelne Gestalten, versuchen sich im „Kontakthof“ vorteilhaft darzustellen. Bei Wechseln tragen sie Battles aus oder tanzen stürmisch miteinander, bevor die bewusst narzisstischen Soli weitergehen. 

Wenige Tage vor dieser Veranstaltung „Maybe Wildness“ erlebte ich in Berlin den „Kontakthof“ von Pina-Bausch, mit den alt gewordenen Tänzer*innen der Originalversion von 1978. Neun von ihnen agierten noch mit über 70 Jahren auf der Bühne – in denselben Rollen wie damals. Auch im Alter geht es weiter und weiter: Was tun Menschen noch immer, um geliebt zu werden, um anderen zu gefallen? Wie sehr müssen sie um Nähe und Distanz kämpfen?

Im Mousonturm geht es wirklich weiter, die jungen Tanzenden sind in den Zwanzigern, quasi Enkel von Pina Bausch. Sie beweisen, dass der Tanz lebt, es geht weiter und weiter – „ob sanft, unbekannt, anders oder wild“, wie es in der Ankündigung heißt. Darin wird auch verkündet, die „choreografischen Werke seien den Wanderungen, Abweichungen und dem Puls der nächsten Generation von Tanzkünstler*innen gewidmet“. Ein hoher Anspruch. Doch die Studierenden der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst konnten ihn durchaus einlösen.

Das Programm beginnt mit einer kleinen Etüde aus „The Second Detail“ von William Forsythe, also einem Klassiker aus der Erneuerung des Balletts in den frühen 1990er-Jahren. Zwei, drei Ballettfiguren werden zitiert, dann drehen, gleiten, flattern die Tanzenden mit immer bizarreren Bewegungen in sämtliche Richtungen auf der Bühne. Frieren flüchtig ein. Formieren sich neu. Tanzen weiter. So zeigen sie eine kleine Hommage an die Zeiten des Umbruchs.

Im Stück „Becoming“ kracht, knarzt, raucht es. Im Lichtkegel kämpft ein Paar ohne Berührung. Kontaktimprovisationen ohne Kontakt. Es wird heller, fünf Personen kommen dazu, lassen eine andere Gestalt in Zeitlupe über die Bühne tapsen. Wird ihr geholfen oder quält man sie? Dann finden alle zusammen, es entstehen Gruppenkämpfe ohne direkte Berührung.

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Staatsballett Berlin: „Winterreise“

Noch bevor die Musik beginnt, stakst ein Wanderer mit weiten, grotesken Bewegungen über die Bühne. Der zusammengeknäulte Schwarm schwarzer Gestalten erwacht langsam, synchron. Am Rand steht starr eine Frau, die mit verbundenen Augen einen Raben hält. Dann erklingt das bewegende Lied: „Fremd bin ich eingezogen / Fremd zieh‘ ich wieder aus.“ 

Mit diesen klagenden Worten des Dichters Wilhelm Müller beginnen die Gesänge der „Winterreise“. Bereits darin verdichtet sich das gesamte Thema von Verlassenheit und sozialer Kälte. Die neue Aufführung im Berliner Staatsballett ist jedoch die zeitgenössische Interpretation dieser romantischen Verse. Es sind nicht die wohlklingenden Sologesänge des Wanderers zu Franz Schuberts Klavierklängen zu hören, obwohl er in seiner Zeit heftig umstritten war. Stattdessen erleben wir die krasse Version des Komponisten Hans Zender aus dem Jahr 1993, komponiert für Tenor und kleines Orchester. Dazu tanzt das Berliner Staatsballett Assoziationen zu den 24 Gedichten Müllers.

Zenders „komponierte Interpretation“ greift auf das gesamte Spektrum neoromantischer und moderner Klänge zurück – bis zur Neuen Musik, ergänzt um alltägliche und exotische Geräusche. Tenor Matthew Newlin beherrscht die von Zender geforderten sanften oder kräftigen Gesänge ebenso wie Sprechgesang und groteske Stimmspiele. Das alles sollte man wissen – denn natürlich wirken auch die Choreografien zu den 24 Gedichten sehr zeitgemäß. Sie changieren zwischen modernem Ballett und aktuellem Tanztheater. Choreograf Christian Spuck wollte die Dichtungen nicht tänzerisch illustrieren, sondern vielmehr das Innere des einsamen und traurigen Wanderers in der rauen Natur zeigen. Er hat großes Interesse an verrätselten und abstrakten Tanzbildern.

Man weiß nicht genau was dem Protagonisten der „Winterreise“ widerfahren ist – offenbar hat die Geliebte ihn verlassen müssen. Nun streift er ziellos durch die kalte Welt, in jener verträumten Haltung, mit der die Romantiker das Wandern als Selbstzweck verklärten. Bereits in den ersten Szenen wird das deutlich, die nun durchgehend zu eigenen Assoziationen herausfordern. 
Freie, häufig rätselhafte Bilder ziehen sich durch alle Szenen, bis das Werk eineinhalb Stunden später mit dem gesamten, fast nackt wirkenden Ensemble endet.

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Berliner Theatertreffen 2025: „Kontakthof Echoes of ‘78“ von Meryl Tankard

Fünf Tänzerinnen, vier Tänzer sind übriggeblieben und begegnen sich in der Choreografie „Kontakthof Echoes of ‘78“ nach Pina Bausch von Meryl Tankard. Alt sind sie geworden, denn vor 46 Jahren gehörten sie zur Erstbesetzung dieses legendären Stücks. Doch nach wie vor sind sie einsam, flirten oder zanken sich – untereinander oder mit imaginären Gegenübern. Sie bieten sich an, zeigen ihre Körperteile, demonstrieren, was sie so können, begutachten die anderen, nähern sich an und quälen einander. 

Ihr „Kontakthof“ ist kein Raum für käufliche Liebe im engeren Sinne, sondern der Sehnsuchtsort dieser Menschen: Sie wollen wahrgenommen, berührt, geliebt werden und machen sich dafür zur käuflichen Ware. Zugleich präsentieren sie sich dem Publikum als Professionelle, als Auftretende, die gefallen müssen. Auf einer zweiten Ebene werden so auch die Zwänge des Tanztheaters zum Thema gemacht.

Dieses frühe Stück gehört zu den meist gespielten Arbeiten des Wuppertaler Tanztheaters. Bereits damals fragte sich Pina Bausch, wie das wohl wäre, es eines Tages mit ihren älter gewordenen Mitwirkenden zu inszenieren. 22 Jahre nach der Uraufführung erarbeitete sie eine Version mit Amateuren von über 65 Jahren. Kurz vor ihrem Tod entstand auch der „Kontakthof mit Jugendlichen“, der von einigen Mitarbeiterinnen ebenfalls mit Laien verwirklicht wurde. Diese Inszenierungen mit verschiedenen Generationen zeigen, dass Tanztheater nicht elitär ist, sondern alle Körper, alle Lebensalter und alle Erfahrungen einschließen kann. 

Viele Choreografien von Pina Bausch enden so wie sie begonnen haben. Man verlässt das Theater und denkt: Es hört nicht auf – das, was Menschen unternehmen, um geliebt zu werden. Wenn man das Stück Jahre später erneut sieht, hat man das Gefühl, es habe auch in der Abwesenheit nicht aufgehört. Tanzende wurden zwar ausgetauscht, andere haben die Rollen übernommen – aber das Spiel geht weiter, wie das Leben selbst.

„Echoes“ wurde im letzten Winter in Wuppertal uraufgeführt und ist nun zum Berliner Theatertreffen 2025 eingeladen worden.

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Berliner Theatertreffen 2025: „Sancta“ von Florentina Holzinger

Während abends nach der Papstwahl im Vatikan weißer Qualm aufsteigt, tummeln sich vor der Berliner Volksbühne auf Rollschuhen fahrende oder Selfies machende Nonnen. Sie sind die Chorsängerinnen und Tänzerinnen des Stücks „Sancta“ von Florentina Holzinger, das zum Berliner Theatertreffen 2025 eingeladen wurde und gleich beginnen wird.

Als der Vorhang aufgeht, zeigen sich etliche Zuschauende im Saal noch schnell den römischen Rauch auf ihren Smartphones. Auf der jetzt offenen Bühne liebt sich – explizit wie es neuerdings heißt – leidenschaftlich ein nacktes Frauenpaar. Ein Riesenroboter schwenkt eine große Kirchenkerze. Zwei Ordensschwestern singen „Mir ist als klängen bodenlose Tiefen.“ Wie Krebse kriechen einige entblößte Akteurinnen auf der Bühne herum, kraxeln schließlich die Bühnenrückwand hoch, die ein Bild aus der Sixtinischen Kapelle darstellt. Aber das wird erst später im Stück deutlich, wenn die Wand zerschlagen wird, um „die Kirche zu erneuern.“

Das Orchester im Bühnengraben spielt die Melodien aus Paul Hindemiths Einakter-Oper „Sancta Susanna“, und das Libretto wird vom Nonnenchor oder einigen Solistinnen gesungen. Darin geht es um die junge Ordensfrau Susanna, die in Verzückung gerät, erotische Begierde verspürt und sich gegen die strenge klösterliche Ordnung auflehnte. Das 1921 uraufgeführte Stück war gerade aufgrund der Vermischung religiöser und sexueller Motive damals extrem skandalös – und ist die Vorlage für Holzingers aktuelles Gesamtkunstwerk. Auch 100 Jahre später demonstrierten in Stuttgart und anderswo fundamentalreligiöse Fanatiker gegen die angeblich blasphemischen und frevelhaften Provokationen der Choreografin. 

Ein riesiges rotleuchtendes Kreuz kracht auf die Bühne. Darauf kopuliert jetzt das nackte Paar. Susanna reißt sich die Kleider vom Leib. „Ich darf Euch nun die Schwestern meines Ordens vorstellen“, verkündet sie. Bevor sie sich völlig entkleiden, agieren etliche Tänzerinnen mit Reststücken ihrer Nonnenroben. Die Hindemithklänge gehen in Rockmusik über. Ohrenbetäubendes Geschrei. Irrsinnige E-Gitarrenriffs einer Rollschuhfahrerin. Andere rasen mit ihren Rollerblades in der Half Pipe auf der Bühne. Eine riesige Glocke senkt sich herab, eine Tänzerin wird zum Klöppel und läutet die Ektase ein.

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Im Reich der Klänge und Bewegungen

Zum Ende der KulturWerk-Woche hatten das musikalische Ensemble „gem“ aus Leipzig und zeitweise drei Tänzerinnen der Gruppe „Artodance“ aus Schlüchtern „Kontakte“ (so der Titel). Sie nahmen das Publikum mit auf die Reise in ihr Reich der Klänge und Bewegungen.

Im Saal ist es lange dunkel. Plötzlich beleuchtet rötlich-lila Licht die Bühne. Zwei Musikerinnen, ein Musiker, drei Tänzerinnen erscheinen. Erst setzt die Harfe ein, dann die Bratsche und schließlich das elektronische Gerät, mit sanften, aber bizarren Tönen. Bald bewegen sich auch die Tänzerinnen ganz zart, nicht im Rhythmus, eher parallel zu den Klängen. Gemeinsam kreieren alle eine traumartige Atmosphäre. Bald werden die Darbietungen wilder, dramatischer – und enden abrupt. Erst dann werden die drei aus Leipzig angereisten vorgestellt: Harfenistin Babett Niclass, Bratschistin Neasa Ni Bhrian und der -Elektroniker Damian Ibn Salem. Mit den drei Tänzerinnen Meline Gottwald, Julie und Maren Opsahl trafen sie mittags erstmalig aufeinander und improvisierten gemeinsam.

Nach dem Vorspiel präsentiert „gem“ zunächst allein die Bandbreite ihrer experimentellen Musik. Sie beginnen mit dem Titel „Daphne“, die sich in der Mythologie auf ihrer Flucht in einen Baum verwandelt: Lautes elektronisches Geknatter. Schrille Bratschenklänge. Hohe Harfentöne. Später weinende Bratsche, klagende Harfe. Am Ende ein melodischer Ausklang. Das spiegele die persönlichen Gefühle des Ensembles zur Weltlage, meint die meist moderierende Bhrian vorab. Danach spielt sie solo – im Duett mit sich selbst vom Band – eine mal zurückhaltende, mal schrille „Etüde“.

Schließlich zelebriert das Trio „Joe“: Der Ausschnitt einer Rede Joe Bidens, in der er versehentlich Selenskyj und Putin verwechselt, wird eingespielt. Langsam zerlegt und wiederholt die Elektronik Bidens Worte, dazu quietscht die Bratsche, zetert die Harfe. Die Gruppe entfaltet behutsam ein chaotisches Klang- und Sprachgewirr, doch die Harfe wehrt sich verzweifelt mit einem Thema aus Tschaikowskys „Nussknacker“. Chaos und Harmonie entstehen parallel, verschmelzen aber im leisen Abschluss.

Bhrian erklärt vor jedem Stück nicht belehrend, was das Ensemble damit verbindet. So wird der Weg bereitet, herausfordernde oder wenig verständliche Klänge zu erfahren.

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„Der Tod und das Mädchen“ und „Shuv“ an einem Tanzabend in Kassel

Unterschiedlicher können Tanzstücke heutzutage kaum sein: Zuerst die zeitgenössische und doch neo-romantische Tanz-Interpretation des Gedichtes „Der Tod und das Mädchen“ zur erweiterten Orchester-Variante Gustav Mahlers, nach der Musik von Franz Schubert. Und dann im zweiten Teil des Abends die fast mathematisch konstruierten, unterkühlten Tänze „Shuv“ zu ebenso konstruierten Klängen des Minimal-Musik-Komponisten John Adams.

„Der Tod und das Mädchen“

Im Saal ist es noch hell, die Leute schwatzen. Auf der Drehbühne führen zwei Treppen ins nirgendwo oder in den Himmel, in der Mitte liegt eine dicke rote Turnmatte. Sanft dreht sich die Bühne, immer wieder erscheinen eine Tänzerin oder ein Tänzer, ringelt und windet sich auf dem roten Gebilde, das wohl ein Bett symbolisiert.

Es wird dunkel, Mahlers Musik beginnt, drei Männer in schwarzen Kleidern räkeln sich auf der staubenden Matte. Sie sind der verdreifachte Tod, agieren mit sexuellen Positionen, Turnübungen oder Kampfposen. Zwei malträtieren auch mal den dritten Mann. Irgendwie vergnügen sich die Tode mit ihren Fantasien, was sie wohl mit dem Mädchen alles anstellen könnten…

Die Musik verstummt. Drei Tänzerinnen kommen, spielen in der Stille Mädchen beim Spitzentanz. Dann bilden sie mit den Toden drei Paare, locken einander, turteln herum. Bald bedrängen sie sich, weisen sich zurück, ringen leidenschaftlich miteinander, raufen um Nähe und Distanz. Die Musik setzt wieder ein. Mal ziehen sich zwei Paare an die Treppen zurück, überlassen das rote Turnbett einem erotisch-aggressiven Pas de deux, dann verdreifachen sie sich erneut. Irgendwann klemmen sich die Mädchen die Tode unter die Arme, zärtlich aber energisch schleppen sie sie die Treppen hoch. Ganz zum Schluss liebt sich ein nackt wirkendes Paar auf der Matte mit lautem Gelächter.

In der Vorlage von Matthias Claudius, dem Gedicht der „Tod und das Mädchen“, fleht das Mädchen: Vorüber! Ach Vorüber! / Geh wilder Knochenmann! / Ich bin noch jung, geh Lieber! Und rühre mich nicht an.“ Dagegen säuselt der Tod: Gibt deine Hand, du schön und zart Gebild! /Bin Freund und komme nicht zu strafen. / Sei guten Muts! Ich bin nicht wild. / Sollst sanft in meinen Arten schlafen!“

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„Selig sind die Toten“ – Mozarts Requiem als Gesamtkunstwerk

Das ausverkaufte Kasseler Staatstheater präsentierte Wolfgang Amadeus Mozarts „Requiem“ im Rahmen des Themas Tod in dieser Spielzeit. Mit Ovationen im Stehen bejubelte das Premierenpublikum das mutige, experimentelle Gesamtkunstwerk „Selig sind die Toten“: Zur Musik des Staatsorchesters und Gesängen des Opernchores tanzt das Ensemble „Tanz_Kassel“. Dazu wird der unvollendeten Todesmesse des Komponisten – im Wechselspiel mit seinen klassischen Klängen – zeitgenössisches Sound-Design hinzugefügt. 

Der Vorhang hebt sich, die Bühne liegt im Dunklen. Vage erkennbar eine Menschenkette mit Grablichtern, die langsam nach vorne schreitet. Es ist der Chor, der bald das „Requiem“ anstimmt, um Ruhe und Licht für die Toten zu erbitten. Davor kaum sichtbar eine weiße Gestalt, die sich windet, reckt und streckt. Eine ruhige, meditative Atmosphäre entsteht.

Doch dann grelles Licht in einer kleinen weißen, über der großen schwebenden Bühne. Krasse Technoklänge erdröhnen. Die Gestalt taucht oben auf, nach und nach quellen weitere, nur spärlich bekleidete Menschen aus der Notausgangstür herein. Später farbiges Licht. Wilde Tänze. Viel Geschrei. Dann Stille, die Orchesterbühne fährt hoch. Der Chor erscheint auf der kleinen Bühne, intoniert die „Sequenzen“. Rhythmisch bewegen sich die Singenden, während die Tanzenden mühselig aus der Höhe heruntergleiten. Auf der Bühne ein Berg Kleider. Die Menschen ziehen sich an, begegnen sich ungestüm zu Mozarts dramatischer Musik. Angesichts des Todes zeigen sie Verzweiflung. Hoffnung. Entkommen. Sich fügen…

Die Company illustriert nicht die Texte der Messe, sondern setzt sie in ihre Bewegungssprache um. Oft frieren die Performenden in den Aktionen ein, schaffen berührende Szenenbilder. Alle Singenden treten ohne Notenblätter auf und werden häufig in die Choreografien eingebunden. Solistinnen und Solisten bewegen sich mitten im Ensemble und kreieren manchmal Pas de deux mit Tanzenden. 

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