„Fremde überall“ in Venedig

Auf der venezianischen 60. Biennale gibt es neben genähten oder bestickten Textilien, naiven Bildern wie von Kinderhand oder ornamentaler Volkskunst auch anspruchsvolle zeitgenössische Kunst. 

Das Ausstellungskonzept „Fremde überall“ passe zum zeitgeistigen Mainstream und habe etwas Anbiederndes, schrieb vorab die Neue Züricher Zeitung. Auch nach dem Beginn gab es Kritik am Konzept des brasilianischen Kurators Adriano Pedrosa, überdies antisemitische Proteste zweitklassiger Kunstschaffender. Doch anders als bei der documenta fifteen steht hier der Diskurs über aktuelle Kunst im Fokus des Festivals, das seit langem zweigeteilt ist: In vielen Hallen der Arsenale, einer steinalten Schiffswerft, und im neu grellbunt bemalten Palast in den Giardini, werden Werke präsentiert, die der Kurator zum Thema der zentralen Biennale-Ausstellung auswählte. Er lud 332 meist unbekannte Kunstschaffende ein.

Beide Orte beginnen mit spannenden Arbeiten, in den Arsenalen mit dem „Refugee Astronaut“, einer lebensgroßen, in afrikanisches Tuch gewickelte Raumfahrer-Figur. Und im Eingang mit der Lichtinstallation von Maori-Künstlerinnen, die zeitgenössische Kreationen mit regionalen Wurzeln verbinden und dafür einen Goldenen Löwen bekamen. Ansonsten schmiegen sich in den halbdunklen Hallen viele Objekte faszinierend an die verrotteten Wände, die vergitterten Fenster und die maschinellen Überbleibsel der einstigen Werft. Zwischen Kitsch, Kunstgewerbe und Folklore überraschen faszinierende Wandteppiche mit surrealen Motiven oder riesige traditionelle Farbscherenschnitte mit sexuellen Motiven. In der zentralen Schau in den Giardini empfängt uns ein Nomadenzelt, eine Zuflucht und doch ein Gefängnis für Frauen. Es folgen faszinierende Malereien einer Outsider-Künstlerin. Andere Bilder werfen Fragen auf: Hat Picasso sie abgeguckt oder ahmen die Enkel lokaler Künstler im globalen Süden ihn nach?

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Biennale-Tagebuch (1)

Die 60. Biennale in Venedig ist eröffnet. Vor dem, gar nicht erst eröffneten israelischen Pavillon, randalierten und grölten hasserfüllte Hamas-Anhänger.  Ansonsten hält sich der organisierte Antisemitismus in Grenzen, denn die Boykottbewegung (BDS) gegen Israel und jüdische Kunstschaffende, konnte sich in Venedig nicht durchsetzen. Im Gegensatz zur letzten documenta ist es nach einer Woche recht friedlich.

Das große Ausstellungsgebäude in den Giardini ist bunt und wild von einer indigenen Gruppe bemalt worden, die kein Geheimnis daraus macht, dass alle bei der Gestaltung ziemlich bekifft waren. Ansonsten rappelt, kracht und bimmelt es überall, die Atmosphäre ist laut und schrill. Es wird viel getanzt oder Theater gespielt, die Grenzen zwischen Performance und Leben verschwimmen. Getrommel und Gerüche betören die Sinne… Trotz der finsteren Zeiten in denen wir derzeit leben, ist die aktuelle Biennale ein buntes, vielfältiges und fröhliches Kaleidoskop.

Wie immer in den letzten Jahren, wollten wir zur Vorabschau für Journalisten und VIPs und danach zur Eröffnung der Biennale anreisen, aber aufgrund eines Unfalls mussten wir unsere Reise verschieben. Auch wenn wir – zunächst – nicht selber in die Giardini und in das Arsenale kommen konnten, kommentieren wir die Eröffnung und formulieren erste Eindrücke aufgrund der Berichterstattung in den deutschen Medien.

Seit vielen Jahren ist die Kunst-Biennale zweigeteilt:

In eigenen Pavillons im Giardini stellen etliche Länder ihre Kunstschaffenden vor. Im Arsenale, der gigantischen alten Schiffswerft, sind einige Länder temporär vertreten. Hier wurde in der Vergangenheit großartige zeitgenössische Kunst – oft beliebig – präsentiert, die Kuratoren wählten, wenn überhaupt, die Themen ihrer Projekte selber.

Im großen Palast in den Giardini und in vielen, vielen Hallen der Arsenale werden seit jeher Kunstwerke präsentiert, die vom jeweiligen Kurator zum – von ihm gewählten Thema der Biennale – ausgewählt wurden.

Auf dem letzten Kunstfestival vor zwei Jahren hieß es „The milk of Dreams“ der Kuratorin Cecilia Alemani. In diesem Jahr postulierte der brasilianische Ausstellungsmacher Adriano Pedrosa „Fremde überall“. Er lud 332 Ausstellende ein, die im Westen weitgehend unbekannt sind und meist noch nie auf der venezianischen Biennale vertreten waren.

Mit seinen ausgesuchten Werken von Fremden, Queeren, Indigenen und Außenseitern setzt Pedrosa die Konzeption der letzten Biennale fort. Damals hatte Alemani viele vergessene oder nicht beachtete Künstlerinnen ausgegraben und vorgestellt.

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Der „unwägbare Rest“ – Streifzüge auf der 58. Biennale (Schluss)

Shakuntala Kulkarni hat schwer aussehende Drahtkörper gefertigt und sich, eingezwängt in die Rüstungen, an belebten Orten ihrer indischen Heimat präsentiert. „Of Bodies, Armour and Cages“ heißt die Serie (2010-2012).

Diese Aktionen seien ihr nicht leicht gefallen, meint sie, denn sie habe vorher noch nie Performances gemacht und sei bisher immer hinter ihre Werke zurückgetreten. Von diesen Auftritten, die von der (männlichen) Bevölkerung oft nicht begeistert aufgenommen wurden, zeigt sie im indischen Pavillon spannende Fotos sowie die genutzten Harnische. Diese zunächst so massiv wirkenden Hüllen sind aus leichtem Bambus und könnten weibliche Rollenzuschreibungen oder Schutz gegen männliche Übergriffe symbolisieren.

wpo-Biennale-3-2.jpgWir kommen in unserem letzten Text also noch einmal auf Arbeiten zurück, die auf der Biennale gezeigt werden und trotz ihrer „Privatheit“ politisch, vor allem aber eigenständige Kunstwerke sind.

Der österreichische Pavillon wird zum ersten Mal alleine von einer Frau gestaltet: Renate Bertlmann, schon früh bekannt als feministische Performerin, hat streng geometrisch auf 312 spitzen Floretten Rosen aus venezianischem Muranoglas drapiert. Ihre „Ästhetik des Riskanten“, so die Kuratorin, hält Kampf und Anmut, Verlockung und Abwehr in der Schwebe:

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Das Private und die Frauenkunst… Weitere Streifzüge auf der 58. Biennale (2)

Zunächst einmal etwas Sinnliches über den isländischen Pavillon: Abseits von Gardini und Arsenale sind wir in eine langgezogene farbenfrohe Kuschelhöhle eingetaucht und haben uns zu psychedelischer Musik einfach nur wohlgefühlt.

Aber „Wohlgefühl“ reicht vielen Kritikern der Biennale natürlich nicht bei ihrer Kontrolle der Kunst, die nun auch noch von einer Frau produziert wurde…

„Von wegen politisch…“, fragten wir im ersten Text über unsere Rundgänge auf der 58. Biennale in Venedig. Wir wunderten uns über das seltsame Kunstverständnis, das häufig zunächst nach der politischen Bedeutung, nicht aber der Ästhetik und künstlerischen Qualität der diskutierten Arbeiten fragte. Dagegen überrascht uns, dass das Politische an scheinbar privaten Werken kaum wahrgenommen wird: kl Biennale 2-4.jpg

Eine junge Japanerin, die bunt bemalte Beinprothesen trägt, sitzt zum Interview im Pressezentrum. In der Ausstellung „May You Live in Interesting Times“ ist sie, Mari Katayama, zweimal mit inszenierten Fotografien vertreten. Entweder ist sie selbst als Performerin oder als Teil ihrer Artefakte zu sehen: sie tritt nicht hinter die Werke zurück.Ganz in der Tradition der Performance und Body-Art zelebriert sie auf radikal künstlerische Weise die Ästhetik des Andersseins: Ihre Diversität ist nicht länger private „Behinderung“ sondern politische – aber nicht plakative – Aussage über den Zustand und die Möglichkeiten unserer normierten Gesellschaft!

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Von wegen politisch… Rundgänge auf der 58. Biennale (1)

Seit der Verleihung der Goldenen Löwen zur Eröffnung gilt die 58. Biennale als politisch. Wenn man sich dort eine Woche lang treiben lässt, erlebt man jedoch eher die Spannweite der zeitgenössischen Weltkunst: Man wird nicht politisch belehrt und hat auch nach sieben Tagen noch längst nicht alles gesehen.

Am Rand der Ausstellungshallen im Arsenale liegt auf einem Transporter ein aus dem Meer geborgenes Schiffswrack. Es fällt zum Beginn des Festivals kaum auf, denn in dem einstigen Militärgelände verrotten viele Boote, Kräne und andere Geräte. Angesichts riesiger Lecks im Rumpf spürt man jedoch ein Grauen – und fragt sich: „Ist das Kunst?“

Später wird bekannt, der Kahn sei ein Fundstück, das vom Schweizer Künstler Christoph Büchel zur Kunst erklärt wurde, ein gesunkenes Flüchtlingsschiff, in dem 2015 Hunderte von Menschen starben. Ein Jahr später engagierte sich der italienische Politiker Matteo Renzi für die Bergung des gesunkenen Schiffs, in dem sich noch Hunderte von Leichen befanden. Nun pöbelt die rechtskonservative Regierung Italiens gegen den angeblichen Missbrauch des Schiffes für politische Propaganda auf der Biennale.

Doch das Wrack ist zuallererst ein „Objet trouvé“, ein eigenständiges Kunstwerk, das für sich selbst spricht und keine Interpretationen benötigt, um Entsetzen und Nachdenklichkeit auszulösen. Man muss nichts über seine Geschichte wissen, um von diesem Objekt berührt zu werden. Der daneben stehende Kran suggeriert sogar noch vergebliche Hilfe, denn der Haken am Stahlseil erreicht nicht das Schiff.

Auch der Goldene Löwe für die Operninszenierung im Litauischen Pavillon muss für den Vorwurf des politischen Missbrauchs herhalten. Doch das Singspiel „Sun & Sea“ ist ein autonomes Gesamtkunstwerk aus Musik, Gesang, szenischem Theater und Environment. In dem abgelegenen, schwer zu findenden Gebäude innerhalb der militärischen Sperrzone ist ein Sandstrand aufgeschüttet. Von der Empore, also lediglich von oben (!), kann man das Strandgeschehen miterleben:

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„Mögest Du in interessanten Zeiten leben“ – zur 58. Biennale in Venedig

Vor einer Woche begann im Westen Venedigs, abseits der Touristenströme, die 58. Biennale, eines der größten Festivals der zeitgenössischen Kunst. Diese fast unübersehbare Kunstschau besteht aus drei unabhängigen Teilen:

Die kuratierte Ausstellung mit eingeladenen Kunstschaffenden ist der eigentliche Kern der Biennale. Dazu kommen 90 Länder-Pavillons, die von den jeweiligen Nationen künstlerisch ausgestattet werden, sowie die “Collaterali“, verstreute Kunst in vielen Palästen Venedigs.

Im Arsenale, dem riesigen Industriekomplex des 19. Jahrhunderts mit krassen Spuren seiner Nutzung, beginnt die Biennale-Ausstellung mit einem großen Wandgemälde zweier zechender Figuren. Fotoserien zeigen ängstliche Outsider in Kalkutta oder schräge Frauenbilder aus den 1950er-Jahren. Bald folgen große verrätselte Rauminstallationen, durch die man hindurchgehen oder hineinkriechen kann. Dazwischen lustige oder makabre Videos. Klanginstallationen. Eindringliche Selfies einer beinamputierten Japanerin. In Glaskästen Traumwelten aus gestrickten und gehäkelten Teilen.

„Mögest du in interessanten Zeiten leben!“, lautet die Aufforderung des britischen Kurators Ralf Rugoff (62) an das Publikum. Diese Losung, „May You Live in Interesting Times“, ist kein starres Konzept, dem die Kunstwerke folgen. Sondern umgekehrt, sie selbst ermöglichen unterschiedliche Blicke, auch positive, auf den Zustand unserer Welt. Nicht die Wandtexte und abstrakten politischen Ideen, wie bei der letzten Documenta, quälen das Publikum. Stattdessen fordern es interessante künstlerische Arbeiten zur aktiven Teilnahme heraus.

Rugoff hat etwa 80 Kunstschaffende eingeladen, vor zwei Jahren waren es 120, doch dafür stellen alle zweifach aus:  Sie zeigen ihre unterschiedlichen Kunstwerke im Arsenale und in den Giardini (den Gärten) im „White Cube“, einem nur für die Kunstausstellung geschaffenen Gebäude. Der Kurator hat Wert darauf gelegt, dass die Künstler diverse Arbeiten kreieren. Diese Idee soll verdeutlichen, Kunst kann unterschiedliche, sich sogar widersprechende Fragen aufwerfen.

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