Die Wunderkammern der Sasha Waltz (2)

Chronologie

Nach dem poetischen Auftakt (Teil 1) wechselt das Buch die Perspektive – und wird zur präzisen Chronik des Ensembles. Noch einmal 100 Seiten widmen die Herausgeber im zweiten Teil des Buches einer Chronologie, die sämtliche Projekte von Sasha Waltz ab 1993 akribisch Jahr für Jahr auflistet.

Im Jahr 2000 – man darf schon sagen: – knallte sie mit ihrer Choreografie „Körper“ in die westdeutsche Tanztheaterszene. Sie gehörte nicht zu den Pionierinnen um Pina Bausch, Susanne Linke oder Reinhild Hoffmann, dazu war sie noch zu jung. Das Wuppertaler Tanztheater wurde 1973 von Pina Bausch übernommen, Waltz gründete 1993 mit Sandig ihr Ensemble im nicht gerade tanzaffinen Berlin. Hier entwickelte sie ihre ersten „Dialoge“ mit Musik und Bildender Kunst, fand später eine feste Spielstätte in den Sophiensälen.

Ums Millennium herum eroberte sie, nach ihrer Berufung an das legendäre Berliner Theater „Schaubühne“, mit ihrem Stück „Körper“ die Bundesrepublik. Obwohl sie bereits vorher dort und international präsent war, kam mit dieser Arbeit der endgültige Durchbruch. Und sie entwickelte ihre Kunst mutig weiter und ging weit über die Grenzen des Tanztheaters hinaus: bei der Eroberung großer Museen wie des Jüdischen Museums Berlin, des MAXXI in Rom oder der Hamburger Elbphilharmonie – sowie durch die Inszenierung von Opern und Oratorien wie „Dido & Aeneas“ oder der „Johannes-Passion“, die sie als Gesamtkunstwerke von Musik, Bewegung und Raum verstand.

Im „Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe“ (ZKM) präsentierte sie 2005 mit ihrer viermonatigen Ausstellung sowie zahlreichen Choreografien und Performances eine Zwischenbilanz ihrer Arbeit. Ganz nebenbei engagierte sie sich auch gesellschaftlich, gründete ein tänzerisches Kinderensemble und ließ geflüchtete Menschen auf die Bühne.

Bereits mit ihren frühen „Dialogen“ – jenen freien Begegnungen von Tänzerinnen, Musikerinnen und Architekturen im Berlin der 1990er-Jahre – legte Sasha Waltz den Grundstein für das, was ihr Werk prägt: den offenen Dialog der Künste im Raum. Deren gelegentliche Nummerierung führt sie bis heute fort („Dialoge 2020 Tegelsee“).

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„En Masse“ im Staatstheater Darmstadt

In der diesjährigen Gastspielreihe zum Ende der Spielzeit verwandelte sich das Staatstheater Darmstadt zur Bühne für zeitgenössische Zirkuskunst. Zwei australische Compagnien und einige regionale Initiativen wollten den hohen Anspruch realisieren: „Die Grenzen zwischen Tanz, Theater, Musik und Akrobatik neu (!) definieren.“ Wir besuchten die Choreografien „En Masse“ des Ensembles „Circa“, das mit seinen Mitteln Schuberts „Winterreise“ und Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ präsentierte. Zwei Werke, an denen sich seit Jahrzehnten die Tanzszene misst.

Neun Gestalten liegen vor dem geschlossenen Bühnenvorhang. Schuberts Wanderer aus der „Winterreise“ stimmt ein unverständliches Lied an – aber nicht das gewohnte „Fremd bin ich eingezogen…“ Langsam kriechen und schlängeln sich die Liegenden hinter den Vorhang, nur eine Tänzerin umgarnt, bedrängt, umschlingt den Tenor.

Knarzen. Geknatter. Dröhnen – eine Kakophonie elektronischer Klänge. Der Vorhang hebt sich, die Figuren sind in ein durchsichtiges Plastikzelt eingeschlossen. Wieder erklingt ein akustisch nicht zu verstehendes Lied aus Schuberts „Winterreise“. Im Zelt winden sich Menschen ineinander und übereinander. Rotten sich zusammen. Stemmen einander waghalsig hoch. Recken sich nach oben. Paare umklammern sich. Vielleicht ist es die Gesellschaft, von der sich der Wanderer abkehrt – oder seine eigenen Erinnerungen?

Nach einem weiteren elektronischen Einschub ertönen erneut Schubert-Klänge. Auf der nun leeren Bühne läuft ein Einzelner über zusammen gerottete Körper. Dann ringen viele plötzlich athletisch miteinander. Drei Figuren stehen halsbrecherisch aufeinander. Mühsam halten sie das Gleichgewicht. Eine tappt auf Spitzen mit grotesken Bewegungen durchs Bild. Dann hören wir den „Leiermann“, das Schlusslied. Doch die Musik wechselt weiter zwischen den Schubertklängen und elektronischen Tönen. Zum eigentlichen Anfangslied „Fremd bin ich eingezogen…“  kämpfen Paare wild und ungezähmt miteinander. Doch das Ende lässt immer noch auf sich warten. 

Mal erleben wir in den 12 Szenen Akrobatik pur, dann wieder bewegende Bilder einsamer Menschen. Annäherungen von Paaren. Ausgrenzungen oder Integration durch die Gemeinschaft. Die Compagnie zeigt eine zerrupfte Version der „Winterreise“.

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„Maybe Wildness“ – Tanz im Mousonturm

Im Frankfurter Mousonturm präsentieren 35 Student*innen – in wechselnden Besetzungen – sechs Tanzstücke, die von ihren Lehrenden choreografiert wurden. Ein Ensemble sitzt zu Beginn eines Stückes im Kreis. In der Mitte tanzen und posieren einzelne Gestalten, versuchen sich im „Kontakthof“ vorteilhaft darzustellen. Bei Wechseln tragen sie Battles aus oder tanzen stürmisch miteinander, bevor die bewusst narzisstischen Soli weitergehen. 

Wenige Tage vor dieser Veranstaltung „Maybe Wildness“ erlebte ich in Berlin den „Kontakthof“ von Pina-Bausch, mit den alt gewordenen Tänzer*innen der Originalversion von 1978. Neun von ihnen agierten noch mit über 70 Jahren auf der Bühne – in denselben Rollen wie damals. Auch im Alter geht es weiter und weiter: Was tun Menschen noch immer, um geliebt zu werden, um anderen zu gefallen? Wie sehr müssen sie um Nähe und Distanz kämpfen?

Im Mousonturm geht es wirklich weiter, die jungen Tanzenden sind in den Zwanzigern, quasi Enkel von Pina Bausch. Sie beweisen, dass der Tanz lebt, es geht weiter und weiter – „ob sanft, unbekannt, anders oder wild“, wie es in der Ankündigung heißt. Darin wird auch verkündet, die „choreografischen Werke seien den Wanderungen, Abweichungen und dem Puls der nächsten Generation von Tanzkünstler*innen gewidmet“. Ein hoher Anspruch. Doch die Studierenden der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst konnten ihn durchaus einlösen.

Das Programm beginnt mit einer kleinen Etüde aus „The Second Detail“ von William Forsythe, also einem Klassiker aus der Erneuerung des Balletts in den frühen 1990er-Jahren. Zwei, drei Ballettfiguren werden zitiert, dann drehen, gleiten, flattern die Tanzenden mit immer bizarreren Bewegungen in sämtliche Richtungen auf der Bühne. Frieren flüchtig ein. Formieren sich neu. Tanzen weiter. So zeigen sie eine kleine Hommage an die Zeiten des Umbruchs.

Im Stück „Becoming“ kracht, knarzt, raucht es. Im Lichtkegel kämpft ein Paar ohne Berührung. Kontaktimprovisationen ohne Kontakt. Es wird heller, fünf Personen kommen dazu, lassen eine andere Gestalt in Zeitlupe über die Bühne tapsen. Wird ihr geholfen oder quält man sie? Dann finden alle zusammen, es entstehen Gruppenkämpfe ohne direkte Berührung.

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Staatsballett Berlin: „Winterreise“

Noch bevor die Musik beginnt, stakst ein Wanderer mit weiten, grotesken Bewegungen über die Bühne. Der zusammengeknäulte Schwarm schwarzer Gestalten erwacht langsam, synchron. Am Rand steht starr eine Frau, die mit verbundenen Augen einen Raben hält. Dann erklingt das bewegende Lied: „Fremd bin ich eingezogen / Fremd zieh‘ ich wieder aus.“ 

Mit diesen klagenden Worten des Dichters Wilhelm Müller beginnen die Gesänge der „Winterreise“. Bereits darin verdichtet sich das gesamte Thema von Verlassenheit und sozialer Kälte. Die neue Aufführung im Berliner Staatsballett ist jedoch die zeitgenössische Interpretation dieser romantischen Verse. Es sind nicht die wohlklingenden Sologesänge des Wanderers zu Franz Schuberts Klavierklängen zu hören, obwohl er in seiner Zeit heftig umstritten war. Stattdessen erleben wir die krasse Version des Komponisten Hans Zender aus dem Jahr 1993, komponiert für Tenor und kleines Orchester. Dazu tanzt das Berliner Staatsballett Assoziationen zu den 24 Gedichten Müllers.

Zenders „komponierte Interpretation“ greift auf das gesamte Spektrum neoromantischer und moderner Klänge zurück – bis zur Neuen Musik, ergänzt um alltägliche und exotische Geräusche. Tenor Matthew Newlin beherrscht die von Zender geforderten sanften oder kräftigen Gesänge ebenso wie Sprechgesang und groteske Stimmspiele. Das alles sollte man wissen – denn natürlich wirken auch die Choreografien zu den 24 Gedichten sehr zeitgemäß. Sie changieren zwischen modernem Ballett und aktuellem Tanztheater. Choreograf Christian Spuck wollte die Dichtungen nicht tänzerisch illustrieren, sondern vielmehr das Innere des einsamen und traurigen Wanderers in der rauen Natur zeigen. Er hat großes Interesse an verrätselten und abstrakten Tanzbildern.

Man weiß nicht genau was dem Protagonisten der „Winterreise“ widerfahren ist – offenbar hat die Geliebte ihn verlassen müssen. Nun streift er ziellos durch die kalte Welt, in jener verträumten Haltung, mit der die Romantiker das Wandern als Selbstzweck verklärten. Bereits in den ersten Szenen wird das deutlich, die nun durchgehend zu eigenen Assoziationen herausfordern. 
Freie, häufig rätselhafte Bilder ziehen sich durch alle Szenen, bis das Werk eineinhalb Stunden später mit dem gesamten, fast nackt wirkenden Ensemble endet.

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Bausch trifft Brecht. Und Weill

„Die sieben Todsünden“ von Pina Bausch in Wuppertal. Gradwanderung zwischen Empathie und Distanz: So begegnete Pina Bausch dem ewig vorwurfsvollen Zeigefinger Brechts.

Dunkel und völlig kahl ist die Bühne. Später wird im Hintergrund das Wuppertaler Symphonieorchester sichtbar. Dann beleuchtet ein Mann auf einer Leiter immerzu mit dem Scheinwerfer eine Tänzerin. Musik setzt ein. Nun stimmt Sängerin Ute Lemper die folgende Geschichte an: „Wir sind eigentlich nicht zwei Personen / sondern nur eine einzige.“ 

Sie ist die coole, planende, strenge Anna1, ihre tanzende Schwester die verrückte, verspielte, lebenslustige Anna2: Die beiden sind „aufgebrochen nach den großen Städten Amerikas“, um Geld zu verdienen für ein Haus in Louisiana. Jeder besuchte Ort steht für eine der sieben Todsünden. Unaufhörlich fordert die Schwester von Anna2, nicht den Lastern zu verfallen, sondern sich brav zu prostituieren. „Denk an das Haus in Louisiana!“ Während der durchgehenden Handlungsgesänge werden vom Wuppertaler Tanztheater Szenen angespielt, umgedeutet oder paraphrasiert: 

Anna2 wird als Hure ausstaffiert. Ein Frauenensemble bietet sich lasziv an. Sie mischt sich darunter. In der Episode „Wollust“ in Los Angeles verliebt sie sich in einen Kunden. Schwarzgekleidet formieren sich viele Tänzerinnen zu grotesk maschinenartigen Revueauftritten. Männer stampfen diagonal über die Bühne, grabschen sich nacheinander Anna2. Die wird auch vermessen und gewogen. Unaufhörlich wird sie gequält und geschunden, obwohl sie sich gelegentlich tapfer wehrt. Sehr beklemmend ist sie für das Publikum Opfer der Verhältnisse. Stärker als in der Brecht’schen Vorlage wird weniger der gesellschaftliche Hintergrund betont, sondern Annas Ausbeutung und Zerrissenheit als Ware Frau.

Puppenkarussell aus Frauen

1933 schrieb der bereits aus Deutschland geflüchtete Bertolt Brecht das Libretto für Kurt Weills satirisches „Ballett mit Gesang“, das damals von George Balanchine in Paris choreografiert wurde. Pina Bausch inszenierte „Die sieben Todsünden“ 1976, drei Jahre nach Beginn ihres Engagements in Wuppertal, als erste theatralisch-tänzerische Collage. 

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Im Reich der Klänge und Bewegungen

Zum Ende der KulturWerk-Woche hatten das musikalische Ensemble „gem“ aus Leipzig und zeitweise drei Tänzerinnen der Gruppe „Artodance“ aus Schlüchtern „Kontakte“ (so der Titel). Sie nahmen das Publikum mit auf die Reise in ihr Reich der Klänge und Bewegungen.

Im Saal ist es lange dunkel. Plötzlich beleuchtet rötlich-lila Licht die Bühne. Zwei Musikerinnen, ein Musiker, drei Tänzerinnen erscheinen. Erst setzt die Harfe ein, dann die Bratsche und schließlich das elektronische Gerät, mit sanften, aber bizarren Tönen. Bald bewegen sich auch die Tänzerinnen ganz zart, nicht im Rhythmus, eher parallel zu den Klängen. Gemeinsam kreieren alle eine traumartige Atmosphäre. Bald werden die Darbietungen wilder, dramatischer – und enden abrupt. Erst dann werden die drei aus Leipzig angereisten vorgestellt: Harfenistin Babett Niclass, Bratschistin Neasa Ni Bhrian und der -Elektroniker Damian Ibn Salem. Mit den drei Tänzerinnen Meline Gottwald, Julie und Maren Opsahl trafen sie mittags erstmalig aufeinander und improvisierten gemeinsam.

Nach dem Vorspiel präsentiert „gem“ zunächst allein die Bandbreite ihrer experimentellen Musik. Sie beginnen mit dem Titel „Daphne“, die sich in der Mythologie auf ihrer Flucht in einen Baum verwandelt: Lautes elektronisches Geknatter. Schrille Bratschenklänge. Hohe Harfentöne. Später weinende Bratsche, klagende Harfe. Am Ende ein melodischer Ausklang. Das spiegele die persönlichen Gefühle des Ensembles zur Weltlage, meint die meist moderierende Bhrian vorab. Danach spielt sie solo – im Duett mit sich selbst vom Band – eine mal zurückhaltende, mal schrille „Etüde“.

Schließlich zelebriert das Trio „Joe“: Der Ausschnitt einer Rede Joe Bidens, in der er versehentlich Selenskyj und Putin verwechselt, wird eingespielt. Langsam zerlegt und wiederholt die Elektronik Bidens Worte, dazu quietscht die Bratsche, zetert die Harfe. Die Gruppe entfaltet behutsam ein chaotisches Klang- und Sprachgewirr, doch die Harfe wehrt sich verzweifelt mit einem Thema aus Tschaikowskys „Nussknacker“. Chaos und Harmonie entstehen parallel, verschmelzen aber im leisen Abschluss.

Bhrian erklärt vor jedem Stück nicht belehrend, was das Ensemble damit verbindet. So wird der Weg bereitet, herausfordernde oder wenig verständliche Klänge zu erfahren.

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„Der Tod und das Mädchen“ und „Shuv“ an einem Tanzabend in Kassel

Unterschiedlicher können Tanzstücke heutzutage kaum sein: Zuerst die zeitgenössische und doch neo-romantische Tanz-Interpretation des Gedichtes „Der Tod und das Mädchen“ zur erweiterten Orchester-Variante Gustav Mahlers, nach der Musik von Franz Schubert. Und dann im zweiten Teil des Abends die fast mathematisch konstruierten, unterkühlten Tänze „Shuv“ zu ebenso konstruierten Klängen des Minimal-Musik-Komponisten John Adams.

„Der Tod und das Mädchen“

Im Saal ist es noch hell, die Leute schwatzen. Auf der Drehbühne führen zwei Treppen ins nirgendwo oder in den Himmel, in der Mitte liegt eine dicke rote Turnmatte. Sanft dreht sich die Bühne, immer wieder erscheinen eine Tänzerin oder ein Tänzer, ringelt und windet sich auf dem roten Gebilde, das wohl ein Bett symbolisiert.

Es wird dunkel, Mahlers Musik beginnt, drei Männer in schwarzen Kleidern räkeln sich auf der staubenden Matte. Sie sind der verdreifachte Tod, agieren mit sexuellen Positionen, Turnübungen oder Kampfposen. Zwei malträtieren auch mal den dritten Mann. Irgendwie vergnügen sich die Tode mit ihren Fantasien, was sie wohl mit dem Mädchen alles anstellen könnten…

Die Musik verstummt. Drei Tänzerinnen kommen, spielen in der Stille Mädchen beim Spitzentanz. Dann bilden sie mit den Toden drei Paare, locken einander, turteln herum. Bald bedrängen sie sich, weisen sich zurück, ringen leidenschaftlich miteinander, raufen um Nähe und Distanz. Die Musik setzt wieder ein. Mal ziehen sich zwei Paare an die Treppen zurück, überlassen das rote Turnbett einem erotisch-aggressiven Pas de deux, dann verdreifachen sie sich erneut. Irgendwann klemmen sich die Mädchen die Tode unter die Arme, zärtlich aber energisch schleppen sie sie die Treppen hoch. Ganz zum Schluss liebt sich ein nackt wirkendes Paar auf der Matte mit lautem Gelächter.

In der Vorlage von Matthias Claudius, dem Gedicht der „Tod und das Mädchen“, fleht das Mädchen: Vorüber! Ach Vorüber! / Geh wilder Knochenmann! / Ich bin noch jung, geh Lieber! Und rühre mich nicht an.“ Dagegen säuselt der Tod: Gibt deine Hand, du schön und zart Gebild! /Bin Freund und komme nicht zu strafen. / Sei guten Muts! Ich bin nicht wild. / Sollst sanft in meinen Arten schlafen!“

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„In unserem Blut haben wir diese Zirkusseele“

Das Ensemble People Watching zeigt sein erstes Werk „Play Dead“ im Berliner Chamäleon

Die Bühne ist ein angedeutetes Wohnzimmer im Halbdunkel. Ein Mann versucht mehrmals eine Zigarette anzuzünden, doch wenn die Flamme angeht, zuckt er ruckartig zusammen. Während er abgeht, erscheint ein Paar. Der Mann redet auf die Frau ein, die sich genervt langsam von ihm zurückzieht. Sie beugt sich mehr und mehr nach hinten, berührt mit dem Hinterkopf den Boden, verschwindet dann mit einem Salto rückwärts über das Sofa. Eine andere setzt sich auf einen Stuhl und knabbert Möhren.

Bei diesen ersten Bildern aus „Play Dead“ wähnt man sich in einem frühen Stück von Pina Bausch. Bald wird dann mit vielen akrobatischen Einlagen emotional getanzt, nicht um athletische Kunststücke zu verbinden, sondern zur Verstärkung des Ausdrucks. Die alltäglichen Handlungen und die Tänze sind oft akrobatisch so übersteigert, dass sie erschreckend oder absurd wirken. Wir sind im Zeitgenössischen Zirkus, in dem sich durch Übertreibung und Irritation Szenerien irreal verdichten. Akrobatik ist hier weder Wettkampf noch l’art pour l’art, sondern wird ebenso wie die Tänze von realen Gefühlen der Akteure getragen. Ihre Darbietungen wirken authentisch – und immer wieder blitzt auch Humor auf.

Eine Frau klettert in den Schrank, tanzt darin, hüpft mehrfach heraus und wieder hinein, kann sich offenbar zwischen ihren Kleidern nicht entscheiden. Neugierig schaut die Gruppe zu. Halbnackt turnt sie waghalsig in und am Schrank herum. So werden die wenigen Möbel häufig bespielt oder als artistisches Gerät genutzt. 

Zwei Männer begegnen sich in einem heftigen Pas de deux, setzen sich auseinander, kämpfen miteinander, kommen dann mit übersteigerten körperlichen Posen wieder zusammen. Auf dem Schrank beobachten zwei Frauen das Geschehen. Während die Männer im Dunklen verschwinden, beginnen die beiden ganz allmählich einen kühnen Pas de deux auf dem engen Möbelstück. 

In „Play Dead“ vereint „Play“ das Spiel, das Fröhliche, die Leichtigkeit – in „Dead“ dagegen den Tod, die Verzweiflung, das Bedrohliche. Das Ensemble zeigt diese emotionalen Zustände, die es in der Abgeschiedenheit der Corona-Zeit empfand, in Form brachte und choreografierte.

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„Selig sind die Toten“ – Mozarts Requiem als Gesamtkunstwerk

Das ausverkaufte Kasseler Staatstheater präsentierte Wolfgang Amadeus Mozarts „Requiem“ im Rahmen des Themas Tod in dieser Spielzeit. Mit Ovationen im Stehen bejubelte das Premierenpublikum das mutige, experimentelle Gesamtkunstwerk „Selig sind die Toten“: Zur Musik des Staatsorchesters und Gesängen des Opernchores tanzt das Ensemble „Tanz_Kassel“. Dazu wird der unvollendeten Todesmesse des Komponisten – im Wechselspiel mit seinen klassischen Klängen – zeitgenössisches Sound-Design hinzugefügt. 

Der Vorhang hebt sich, die Bühne liegt im Dunklen. Vage erkennbar eine Menschenkette mit Grablichtern, die langsam nach vorne schreitet. Es ist der Chor, der bald das „Requiem“ anstimmt, um Ruhe und Licht für die Toten zu erbitten. Davor kaum sichtbar eine weiße Gestalt, die sich windet, reckt und streckt. Eine ruhige, meditative Atmosphäre entsteht.

Doch dann grelles Licht in einer kleinen weißen, über der großen schwebenden Bühne. Krasse Technoklänge erdröhnen. Die Gestalt taucht oben auf, nach und nach quellen weitere, nur spärlich bekleidete Menschen aus der Notausgangstür herein. Später farbiges Licht. Wilde Tänze. Viel Geschrei. Dann Stille, die Orchesterbühne fährt hoch. Der Chor erscheint auf der kleinen Bühne, intoniert die „Sequenzen“. Rhythmisch bewegen sich die Singenden, während die Tanzenden mühselig aus der Höhe heruntergleiten. Auf der Bühne ein Berg Kleider. Die Menschen ziehen sich an, begegnen sich ungestüm zu Mozarts dramatischer Musik. Angesichts des Todes zeigen sie Verzweiflung. Hoffnung. Entkommen. Sich fügen…

Die Company illustriert nicht die Texte der Messe, sondern setzt sie in ihre Bewegungssprache um. Oft frieren die Performenden in den Aktionen ein, schaffen berührende Szenenbilder. Alle Singenden treten ohne Notenblätter auf und werden häufig in die Choreografien eingebunden. Solistinnen und Solisten bewegen sich mitten im Ensemble und kreieren manchmal Pas de deux mit Tanzenden. 

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„Ich heiße Viktor. Ich bin wieder da!“

Mit einer sofort ausverkauften Neueinstudierung kommt erneut „Viktor“, das legendäre Rom-Stück von Pina Bausch, auf die Bühne des Wuppertaler Tanztheaters.


Neueinstudierung meint nicht die Veränderung oder Kürzung des wegweisenden Tanzstücks aus dem Jahr 1986, wie es einmal ein naseweiser Zahnspangen-Volontär in der ZEIT forderte. Im Gegenteil – alle Choreografien der 2009 gestorbenen Pina Bausch werden Bild für Bild, Szene für Szene detailliert und werkgetreu rekonstruiert. Dabei helfen ehemalige Tänzerinnen und Tänzer des Ensembles den Neuen oder Jungen und „übergeben“ ihre Rollen. In der aktuellen Inszenierung ist nur noch eine einzige Ballerina, Julie Anne Stanzak, aus der Originalaufführung von vor fast 40 Jahren dabei. Einige Male wurde „Viktor“ bereits in den letzten Jahrzehnten wieder auf die Bühne gebracht und hatte jeweils nichts von seiner Kraft und Berührung verloren.

Die Bühne wirkt wie eine viele Meter hohe Erdgrube, vielleicht ist es ein gigantisches offenes Grab, in dem das Ensemble agiert. Gelegentlich schippt ein Totengräber Erde herunter. Ein scheinbar lebloses Paar wird hereingetragen und auf dem Boden liegend, von einem Mann getraut. Zum Hochzeitskuss dreht er die beiden zueinander, danach rollen sie wieder einsam auseinander. Eine Frau wird in einen Teppich gewickelt. Die singende, hüpfende Tänzerin soll unter einem Wintermantel zum Schweigen gebracht werden. Zu einem bolivianischen Klagelied ruckelt eine sitzende Tänzerin, die Arme in die Luft schlingend, zur Rampe nach vorne. Sie wird von irgendjemandem zurückgeschleift und beginnt ihren tragischen, berührenden Tanz aufs Neue.

Andere Tanzende werden hereingetragen und hochgehalten. Plötzlich geht eine aufgeregte Versteigerung los, in der zum Geschrei der Auktionatorin auch Schränke, Bilder, Vasen und anderer Plunder herein- und wieder herausgeschleppt wird. Noch in der Totengrube, im Abgrund wird gefeilscht und gehandelt – aber auch geträumt und fantasiert, ein anderes Leben zu leben: Denn unaufhörlich versuchen sich hier Menschen zu finden, zueinander zu kommen. Als sich ein Paar küsst, mogelt sich eine Frau dazwischen. Verschämt lässt eine Tänzerin jemanden unter ihren Rock schauen. Mehrfach zieht sich eine andere kokett aus und ein neues Kleid an, geht lockend umher, zieht das Kleid aus und ihr erstes wieder an. Eine stopft Kalbfleisch in ihre Ballettschuhe und riskiert einen Spitzentanz. 

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